Michael KÖHLMEIER: Bruder und Schwester Lenobel#
Michael KÖHLMEIER: Bruder und Schwester Lenobel / Roman, dtv, 2018 / Rezension von Guenther Johann
KÖHLMEIER, Michael: „Bruder und Schwester Lenobel“, München 2020
Ein sehr langatmiges Werk. Über 500 Seiten braucht der Autor, um das Seelenleben von Bruder und Schwester und der Ehefrau des Bruders zu beschreiben. Weit entfernt er sich oft vom Leitthema und lässt den „Bruder“, der von Beruf Psychiater ist, eine Wand am Naschmarkt streichen. Er zahlt den dort engagierten Anstreicher, dass er ihm diese Arbeit machen lässt. Sie tauschen die Kleidung und den Stundenlohn bekommt der pausierende Maler. Sehr detailliert wird diese Szene beschrieben. Es ist dies nur ein Beispiel des Abdriftens vom Thema.
Zum Thema selbst: Die Schwester des Psychiaters, des Bruders wohnt in Irland. Sie ist eine weit gereiste Frau, die schon oft in ihrem Leben übersiedelt ist. Ganz anders der Bruder. Außer einer Hochzeitsreise nach den USA kam er noch nicht herum. Plötzlich ist er verschwunden. Die Schwägerin ruft die Schwester zu Hilfe. Sie kommt aus Dublin angereist nach Wien. Vom Bruder erfährt man als Leser - aus einem Dialog mit seinem Freund - von seiner großen Liebe, einem Seitensprung, den er erst mit über 50 Jahren erlebte.
Zwar sind die beiden Geschwister – der Bruder und die Schwester Lenobel – die Hauptpersonen des Romans, aber es kommt auch deren Umgebung zu Wort: ein Freund der Familie, die Kinder und deren Freunde. So zieht sich die Geschichte über viele Menschenschicksale hin. Der Vater wird wieder „gesichtet“. Er ist als Halbjude nach Israel ausgewandert, wo er aber nicht Fuß fassen konnte. „Das war er: ein weitgereister Jude, der keine Sprache verstand außer der seinen und keine andere sprach, nicht einmal die Allerweltsprache. Und warum nicht? Weil er nicht aus unser aller Welt kam? Eine Prüfung, Hebräisch von Arabisch zu unterscheiden, hätte er nicht bestanden.“ (Seite 539)
Um die Qualität des Schriftstellerischen darzustellen, möchte ich hier einen kleinen Diskurs über die Zeit wiedergeben (und selbst das ist nur ein kurzer Auszug aus einem wesentlich Größeren): „Man bildet sich ein, man merkt auch wie die Zeit vergeht, aber das ist eine Illusion. Die Zeit versteckt sich hinter den Dingen, mit denen sie angefüllt wird, und wenn wir sagen, die Zeit vergeht mehr oder weniger schnell, sprechen wir in Wahrheit nicht von der Zeit, sondern von den Dingen, mit denen wir sie ausfüllen, die uns mehr oder weniger interessieren. Die Zeit für sich ist Langeweile. Sie ist ein unendlicher Schwindel, im doppelten Sinn des Wortes….“ (Seite 345)
Die Geschichte verzweigt sich auf ihren über 500 Seiten in einen breiten Stammbaum. Alles ist großartig beschrieben. Beim Lesen kamen mir Zweifel. Ist es möglich, dass ein Mann, ein Schriftsteller, soviel schreiben kann? Fast jedes Jahr kommt ein Buch in diesem Umfang. Oder hat er eine Schreibwerkstatt, wie früher Maler, die das Thema eines Bildes vorgaben und dann bestimmte Details ihren Gesellen malen ließen. Ein Kollege von mir hatte Wildwestromane – sogenannte „Schundheftl“ – geschrieben. Sein Auftraggeber setzte immer kurze Fristen. Um den Abgabetermin einzuhalten, schrieb er Tag und Nacht und seine Frau half ihm dabei. Er begann so einen Roman und bat seine Frau mit Seite 20 einen Reiter zu beschreiben, der durch eine Steppe reitet. Er endete auf der Seite 19 mit dem Erreichen dieser Steppe. So schrieb er, in Zeiten ohne Computer, in einem versetzten Modus. Hat auch Köhlmeier solche „Mitschreiber“? Zumindest deren Niveau ist hoch, so wie das des Meisters Köhlmeier.