Annie ERNAUX: Das andere Mädchen#
Annie ERNAUX: Das andere Mädchen, Suhrkamp, 2022 / Rezension von GUENTHER Johann
ERNAUX, Annie: „Das andere Mädchen“, Berlin 2022
Annie Ernaux hat heuer – 2022 – den Nobelpreis für Literatur bekommen. Das regte mich an ein Buch von ihr, das lieferbar war, zu lesen (nach einer Nobelpreisverleihung sind die Bücher der Preisträger schnell vergriffen). Beim „anderen Mädchen“ handelt es sich um eine Schwester der Erzählerin. Eine Schwester, die einige Jahre vor ihrer Geburt verstorben war. „Bei meiner Geburt warst du schon zweieinhalb Jahre tot. Du bist das Kind im Himmel, das unsichtbare kleine Mädchen, über das nie geredet wurde, die Abwesende aller Gespräche. Das Geheimnis.“ (Seite 14)
Sie wusste nichts von ihrer Schwester. Erst bei einem Gespräch ihrer Mutter mit einer Kundin hörte sie davon. Sie war nur „der Ersatz“ für die verstorbene Schwester. „Ich wurde geboren, weil du gestorben warst, ich habe dich ersetzt.“ (Seite 57) Die Schwester hatte denselben Namen wie sie. Die Verstorbene wurde geliebt. Liebe – so hat sie das Gefühl – ist bei ihr, der Lebenden, nicht angebracht.
Im Alter besucht sie das Grab und schreibt diesen „Brief“ in Buchform an die unbekannte, verstorbene Schwester.
Am Ende des Buches wendet sie sich direkt an die Verstorbene: „Selbstverständlich ist dieses Buch nicht an dich gerichtet, und du wirst ihn nicht lesen. Andere Menschen, Leserinnen und Leser, die beim Schreiben für mich genauso unsichtbar sind wie du, werden ihn in den Händen halten. Trotzdem gibt es in mir einen Rest magischen Denkens, und so stelle ich mir vor, er könnte dich auf irgendeinem verschlungenen Weg erreichen…“