Peter HENISCH: Der Jahrhundertroman#
Peter HENISCH: Der Jahrhundertroman, Residenz, 2021 / Rezension von Guenther Johann
HENISCH, Peter: „Der Jahrhundert Roman“, Salzburg Wien 2021
Viele alte Menschen wollen dann, im sich dem Ende zu neigenden Leben, noch eine große Sache machen. Für einen Schriftsteller ist es „der große Roman“. Der anerkannte österreichische Dichter Henisch versucht es auch. Er steckt aber seinen Wunsch in einen Protagonisten und lässt diesem erzählen, wie er einen großen „Jahrhundert Roman“ schreiben will. Als ehemaliger Bibliothekar und Buchhändler hat er die Bücher einer stillgelegten Bibliothek erworben und verwaltet sie in einem Depot. Aus diesem Material formt er einen Roman über das 20. Jahrhundert aus Aussagen und Erlebnissen von Schriftstellern.
Er hat alles handschriftlich abgefasst und findet in einer Studentin, die als Aushilfskellnerin in seinem Stammcafé arbeitet, eine Schreibkraft, die seine Aufzeichnungen in den Computer überträgt. Sie, die zum Studium nach Wien gekommen war und mit ihrer Familie gebrochen hat, braucht das Geld und nimmt den Auftrag, eine Seite für zwei Euro zu tippen, an. Schließlich stellt sie aber fest, dass sie diese Schrift nicht entziffern kann. Lange reagiert sie nicht. Als sie gesteht, die Schrift nicht lesen zu können, bietet der Verfasser an, ihr die ersten Seiten vorzulesen und sie würde sich dann an die Schreibschrift gewöhnen. Dabei stellt Roch – der Dichter – fest, dass die Seiten durcheinander gekommen sind und der Anfang fehle. Allein versucht er dann eine Ordnung zu finden. Die ersten Seiten tauchen nicht auf und so belässt er es bei einer nichtsequentiellen Reihung.
Zu jedem Dichter, zu jeder Schriftstellerin, erzählt er Hintergrundgeschichten:
- Wie Peymann, der Burgtheaterdirektor, Thomas Bernhard bittet ein alternatives Stück zum Gedenkjahr 1938 zu schreiben. Bernhard will aber nach Mallorca fahren. Letztlich wirft er das Ticket in den Papierkorb und schreibt „Heldenplatz“.
- Dotterer wird als Wehrmachtsoffizier des Hitlerregimes dargestellt, der im Nachhinein mit dieser Zeit nichts zu tun haben will. Roch unterlegt im nach seiner Festnahme den Satz „Je ne suis pas allemand, je suis autrichien.“ (Seite 154) Seine Haushälterin schreibt ihm einen Referenzbrief, in dem sie aussagt, er habe nie das Hitlerregime angehimmelt und war kein Nazi.
- Die Schwester von Ingeborg Bachmann motiviert diese, bei einem öffentlichen Wettbewerb für einen Text der österreichischen Bundeshymne einen Text einzureichen. Mit dem ausgeschriebenen Preisgeld könnten sie ihre Verhältnisse aufbessern. Ingeborg tat es nicht und sie hätte auch die Einreichfrist versäumt. Ihr Text – der in Ansätzen noch erhalten ist – wäre aber moderner gewesen…
- Friedericke Mayröcker war viele Jahre Englischlehrerin an einer Hauptschule in Favoriten. Erst spät konnte sie vom Einkommen als Dichterin leben.
- Der Mödlinger Rechtsanwalt Albert Drach wird ebenfalls erst spät „entdeckt“. Dass er den Büchner-Preis bekam, konnte er nicht mehr realisieren. Er war dement geworden. Im Buch wird eine Geschichte erzählt, bei der er mit seiner jüngeren Frau Pilze suchen war und dann irrtümlich auf die Autobahn kam. Durch den Einsatz der Polizei wird er gerettet. Er war gegen die fahrenden Autos marschiert.
- Über Kafka wird eine Liebesgeschichte mit einer Übersetzerin erzählt. Sie schreiben sich romantische Briefe. Kafka hat aber Angst vor einem persönlichen Treffen, „denn er weiß, dass er brieflich viel überzeugender ist als physisch.“ (Seite 244)
- Über Christine Nöstlinger weiß Roch zu berichten, dass sie als Kind in der Mitte der Straße, auf den Straßenbahnschienen gegangen ist, um mit einem Fuß im Bezirk Ottakring und mit dem anderen in Hernals zu sein. Auch Hemingway hatte sie angerufen. Nöstlinger aber meinte Qualtinger verstelle seine Stimme und mache ihr einen Streich. Bei dieser Geschichte überführt in die junge Studentin, denn das passte in der Zeitachse nicht zusammen.
- Elfriede Jelinek ging mit ihrer Freundin Elfriede Gerstl oft in ein Hutgeschäft, um verschiedene Modelle zu probieren und oft nichts zu kaufen. Sehr zum Ärgernis der jeweiligen Verkäuferin.
Der Jahrhundert-Roman ist also eine unsystematische Aufzählung von Dichtern. Entstanden durch das in Ordnung gebrachte Manuskript. Viele von diesen österreichischen Dichtern kannte der Dichter Roch noch aus der Zeit, in der er mit seiner Frau eine Buchhandlung betrieb.
Mit Lisa, der Studentin, brachte Henisch neben dem Jahrhundert Roman auch das Flüchtlingsproblem ein. Lisas beste Freundin ist ein Flüchtlingskind aus Syrien. Sie ist mit ihrer Familie aus dem Kriegsgebiet geflüchtet. Zuerst erzählt sie Roch von diesem Mädchen und wie es nach Österreich kam. Und dann erfährt sie aus den Nachrichten, dass ihre Freundin abgeschoben werden soll. Lisa macht sich um die Freundin Semira Sorgen, weil sie telefonisch nicht erreichbar ist. Sie konnte nicht wissen, dass die Untergetauchte ihr Telefon in der Donau versenkt hatte, um von der fahndenden Polizei nicht geortet werden zu können. Lisa fährt von Wien nach Linz, um die Freundin im verfallenen Haus ihres Großvaters zu suchen. Sie war trotz des kalten Winters dort, aber nicht mehr auffindbar. Der Freund aus der Wiener Wohngemeinschaft ruft an und berichtet, dass Semira dort eingetroffen sei. Sofort fährt sie nach Wien zurück. Die Wohngemeinschaft will aber nicht, dass die Polizei hier suchen kommt und so nebenbei Rauschgift und Hanfproduktion findet. Die Beiden müssen einen anderen Platz finden. Lisa sieht ihn im Depot des Jahrhundert-Roman-Dichters. Sie packen die wichtigsten Dinge ein und finden dabei die fehlenden Manuskriptseiten. Als die Mädchen beim Depot ankommen, wird Roch gerade von der Rettung abtransportiert. Lisa kann ihm noch sagen, dass die ersten Seiten gefunden sind. Der Schluss ist also ein Happyend und keines. Es kann aber auch umgekehrt sein. Der alte Mann könnte vielleicht noch viele Jahre leben und das Flüchtlingskind von der Polizei geschnappt werden. Oder auch nicht. Es bleibt dem Weiterdenken des Lesers überlassen.
Ob dieser Roman schreibende Dichter Peter Henisch auch ein Depot mit Büchern hat, aus denen er die Informationen für sein vorliegendes Werk nehmen konnte? Sicher hat er eine große Bibliothek. So wie jeder Dichter. Dichter konsumieren und schreiben Bücher. Der vorliegende Jahrhundert Roman ist eine ausgewählte Melange über Dichter des 20.jahrhunderts. Vieles davon ist recherchiert, aber vieles ist auch erfunden. So erfunden, dass es in die jeweilige Zeit passt.