Bernhard SCHLINK: Die Enkelin#
Bernhard SCHLINK: Die Enkelin / Roman, Diogenes, 2021 / Rezension von Guenther Johann
SCHLINK, Bernhard: „Die Enkelin“, Zürich 2021
Eine Geschichte, die zwischen Ost- und Westberlin spielt. Der in Westberlin studierende Kaspar lernt ein Mädchen in Ostberlin kennen, verliebt sich in sie und verhilft ihr zur Flucht in den Westen. Er bricht sein Studium ab, um einen Lebensunterhalt für seine Ehe zu verdienen und wird Buchhändler. Später kaufen sie eine eigene Buchhandlung und eine schöne Wohnung. Die Frau aus dem Osten schafft es nicht in der westlichen Gesellschaft richtig Fuß zu fassen. Sie bricht ihr Studium ab, versucht verschiedene Berufe, nimmt sich eine Auszeit in Indien und lebt zurückgezogen in ihrem Zimmer, wo sie an einem Roman schreibt, von dem ihr Mann erst nach deren Tod Kenntnis bekommt. Darin offenbart sie sich und ihre Probleme. Sie hatte vor ihrem Ehemann eine Freundschaft in Ostberlin und bekam ein Kind, das sie weglegen ließ. Sie wollte es finden, war sich aber nicht sicher und hatte Angst. Im Alter von 70 Jahren übernimmt dann der Witwer diese Rolle und sucht nach der verlorenen Tochter. Über Umwege findet er sie. Sie wurde als Neugeborene von der Freundin der Frau beim leiblichen Vater abgegeben und aufgezogen. Aus dieser Familie bricht sie aus und taucht in zwielichtigen Verhältnissen unter. Sie heiratet einen aus der Gang und gründen einen Bauernhof im Sinne einer völkischen Gemeinschaft. Ihre Tochter – die Stief-Enkelin – wird nationalsozialistisch erzogen. Ihr widmet der Roman einen wesentlichen Teil. Als Kaspar die Familie seiner Stieftochter gefunden hat, täuscht er ein Testament seiner Frau vor; nennt Zahlungen (die er auch erfüllt) und den daran geknüpften Wunsch, dass das Enkelkind beim Stiefopa mehrmals im Jahr Zeit verbringen muss. Zum Aufbau des Bauernhofs braucht die junge Familie das Geld und stimmt zu. Da kamen zwei Welten zusammen, die nicht verschiedener sein könnten: das nationaldeutsch erzogene Mädchen und der bürgerliche Buchhändler. Der „Opa“ versucht sie zu verändern, schenkt ihr ein Klavier und organisiert Unterricht dafür. Auch literarisch wird sie beeinflusst und beginnt die, für sie neue Welt mit Konzert- und Museumsbesuchen zu geniessen. Das war aber nicht im Sinne des völkischen Vaters und dieser bricht die Beziehung. Die Tochter macht sich aber selbstständig und taucht in revolutionären Gruppen – wie seinerzeit ihre Mutter – unter. Als in diesem Kreis ein Mord verübt wird, kehrt sie zum Opa zurück, der auch bereit ist zu helfen. Sie aber verlässt in der Nacht die Wohnung des Großvaters mit dessen Kreditkarte. Wohin und wie ihr Leben weitergeht, muss aber jeder Leser, jede Leserin selbst lesen. Auch bei einem Kriminalroman wird der Mörder nicht vorab verraten.
Ein großartiger Roman, der sich in verschiedenen gesellschaftlichen Szenen bewegt:
- Das bürgerliche Buchhandlungsehepaar
- Der gesellschaftliche Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland
- Die Flucht der Frau, die aber die Verschiedenheit nicht löst
- Die völkisch Nationaldeutschen
- Die radikalen Jugendlichen
Alle Situationen werden von Schlink sachlich und am Beispiel von handelnden Personen dargestellt.
PS: Im erfundenen Testament verlangt Klaus nach Urlauben der Stiefenkelin bei ihm. Aber die Ehefrau konnte gar nicht wissen, dass es ein Enkelkind gab. Da hat der Dichter eine Lücke nicht geschlossen.
Aber trotz allem ein wunderbares Buch.