Erika Fatland: Die Grenze#
Erika Fatland: Die Grenze / Eine Reise rund um Russland durch Nordkorea, China, die Mongolei, Kasachstan, Aserbaidschan, Georgien, die Ukraine, Weißrussland, Litauen, Polen, Lettland, Estland, Finnland, Norwegen sowie die Nordostpassage, Suhrcam, 2020 / Rezension von Guenther Johann
FATLAND, Erika: „Die Grenze. Eine Reise rund um Russland durch Nordkorea, China, die Mongolei, Kasachstan, Aserbaidschan, Georgien, die Ukraine, Weißrussland, Litauen, Polen, Lettland, Estland, Finnland, Norwegen sowie die Nordostpassage“, Berlin 2020
WARNUNG!: Diese Rezension ist sehr lang. Zu lang. Der Grund? Ich war so fasziniert von diesem Buch, wie es Eindrücke und historische Hintergründe der Nachbarländer Russlands wiedergibt. Man versteht die Vorgangsweise Russlands nach diesem Buch anders.
Ich bin begeistert von Frau Fatland und ihrem Stil zu erzählen. Auf dieses Buch hatte ich mich schon gefreut und ich wurde wieder nicht enttäuscht. Eine großartige Frau, die sich ausgefallenste Reisen getraut zu machen und dann noch sehr anschaulich erzählen kann. Nicht nur das, was sie gesehen hatte, sondern auch Hintergrundinformationen und Geschichte. Da steckt viel Recherchearbeit dahinter, die aber sehr leicht lesbar verpackt ist.
Es geht um die Nachbarländer von Russland. Einerseits ein Bericht ihrer Reise und andererseits eine historische Abhandlung. So erfährt man gleich zu Beginn (oder sollte man das wissen?), dass alle europäischen Großmächte Kolonien besaßen. Nur Russland nicht. Russland dehnte sein Reich laufend aus. „Von der Machtübernahme der Romanows1613 an war das russische Imperium im Schnitt jeden einzelnen Tag über hundert Quadratkilometer gewachsen.“ (Seite 117) Viele Erweiterungen passierten ohne Krieg. Die asiatische Erweiterung brachten russische Pelzhändler, die immer weiter vorrückten, um von den Einheimischen zu günstigen Preisen Pelze zu kaufen, die im Westen viel wert waren.
Nordostpassage
Im ersten Kapitel wird die Fahrt mit einem Schiff entlang der Nordküste Russlands beschrieben. Die Fahrt begann in der Beringstraße in Anadyr und ging bis Murmansk im Westen. Sie dauerte für die über 10.000 Kilometer vier Wochen. Am Schiff waren 47 Passagiere. Durchwegs alte Menschen, die aber Weltenbummler waren und viel von ihren Reisen zu erzählen hatten. Vier Wochen gab es kein Internet und kein Telefon. Angelegt wurde in ehemaligen Wetterstationen oder Dörfern. Auf der Reise gab es nur Ruhe und manchmal Eisbären, Robben oder Seelöwen. Eine Reise, auf der es nicht allzu viel Abwechslung gab. Dafür liefert die Autorin viel Geschichtliches über die Eroberung der östlichen Teile Russlands und den Positionen im Norden. Vier Wochen ohne Internet, ohne Telefon und ohne Nachrichten aus der Welt sind ein Erlebnis der besonderen Art.
Nordkorea
Dass es kein freies Land ist, weiß man. Dass es von einem Diktator geführt wird, dessen Rechte schon in die dritte Generation vererbt sind, weiß man auch. Freies Reisen ist nicht möglich. Fatland hatte eine Gruppenreise gebucht, die sich nicht nur auf die Hauptstadt Pjöngjang konzentrierte. Sie kam auch aufs Land und erzählt in diesem Kapitel, wie anders das Reisen in Nordkorea ist. Alles wird überwacht. Alles ist nach einem vorgegebenen Programm organisiert. Als Reisender wird man laufend beschäftigt, um am Abend müde zu Bett zu gehen und keine Ansprüche auf Spaziergänge hat. Und wenn man das noch wünscht, so meint der Führer „Sie können noch ein bisschen auf dem Parkplatz spazieren gehen, wenn sie wollen.“ (Seite 102) Der große Führer Kim ist überall zu sehen. Auch Touristen müssen sich vor seiner Statue verneigen. Fatland nennt es ein „Verneigen, ohne sich zu verbiegen“. Man durfte eine Statue des Führers nur in vollem Umfang ablichten. Generell wurden die Fotoapparate der Touristen laufend von deren Führern geprüft und vieles sofort gelöscht. So muss sich die Autorin von ihrer Führerin sagen lassen, dass sie nur schöne Dinge fotografieren dürfe, während diese die Löschtaste drückt. „Der nordkoreanische Grenzpolizist war sogar noch gründlicher als Miss Pan. Übereifrig durchsuchte er sämtliche Fotos auf meiner Kamera, über sechshundert an der Zahl. Er löschte alle Bilder mit Menschen, die arm aussahen, sowie alle Fotos, die Männer in Militäruniform zeigten – davon gab es einige.“ (Seite 115) Im Nachsatz schreibt sie aber „Glücklicherweise hatte ich vorsichtshalber eine Sicherungskopie erstellt.“
Bei allen Länderberichten wird Bezug auf Russland genommen. So auch aus historischer Sicht. Die Beziehung zwischen Russland und Nordkorea war einmal bedeutend und verschlechterte sich. Nach der Okkupation der Krim durch die Russen wurden die Beziehung zu Nordkorea wieder ausgebaut. Russland strich neunzig Prozent der Staatsschulden Nordkoreas und investierte dreihundert Millionen Dollar in das nordkoreanische Eisenbahnnetz. Als allerdings die UNO die Atomversuche und Raketenabschüsse Nordkoreas kritisierte, distanzierte sich auch Russland wieder.
China
Nach Nordkorea und seinen Restriktionen, fühlte sich die Reisende in China wie in einem freien Land. Sie durfte hingehen, wo sie wollte, und musste nicht am Parkplatz spazieren gehen. Sie querte die Grenze mit einem Bus und kam in die chinesische Stadt Dalian. Die Stadt mit 7 Millionen Einwohnern ist eine, der am schnellsten wachsenden Städte Chinas und „wurde 2006 von China Daily zur chinesischen Stadt mit der höchsten Lebensqualität gekürt.“ (Seite 117) Diese Stadt hatte Fatland ausgewählt, weil sie 1889 als Port Arthur in russische Hände fiel. In dieser Hafenstadt endete die Expansion Russlands nach Osten. Die Grenze zwischen China und Russland war immer umstritten und umkämpft. 1858 erhielten die Russen in einem Vertrag die Gebiete nördlich des Flusses Amur. In Europa war der Zweite Weltkrieg zwar am 30. April 1945 zu Ende, aber nach Abwurf der Atombombe über Hiroshima am 9. August marschierten 1,5 Millionen sowjetische Soldaten in China ein, um die japanischen Besatzer zu vertreiben. Da es noch heute Streitereien um eine Insel gibt, kam es zwischen Japan und Russland bis heute zu keinem Friedenvertrag. Die Sowjets zogen sich später zurück und übergaben das Land Maos Truppen. Von der Stadt Dalian reist die Autorin weiter nach Harbin. Sie nimmt einen Hochgeschwindigkeitszug und ist begeistert. „Jährlich transportieren chinesische Züge 2,5 Milliarden Passagiere, und diese Zahl ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die durchschnittliche Entfernung, die jeder Passagier zurücklegt, fünfhundert Kilometer beträgt.“ (Seite 129) Auch Harbin hat russische Wurzeln. Ende des 19. Jahrhunderts wurde hier die Administration der „Ostchinesischen Eisenbahn“ von den Russen gegründet. Die Stadt blühte auf und wurde „das Paris des Fernen Ostens“ genannt. 1905 verloren die Russen gegen Japan einen Krieg. Viele Russen gingen heim. Harbin wurde aber eine internationale Stadt. Nach der russischen Revolution kamen viele politische Flüchtlinge und hatte den größten jüdischen Bevölkerungsanteil im Fernen Osten. Die Japaner entwickelten und produzierten hier biologische Waffen. Viele Menschen starben an den Folgen dieser Industrie. Die Chinesen betreiben heute ein „russisches Dorf“; eine Art Disney Land, das russische Kultur vermitteln soll. Viele Russen finden hier einen Arbeitsplatz. Die Autorin zeigt dies am Beispiel einer russischen Pensionistin aus Wladiwostok, die hier arbeitet, weil sie zu Hause mit der staatlichen Rente nur schwer leben könnte. Fatland reist entlang der Grenze weiter in die Grenzstadt Heihe am Fluss Amur. Auf russischer Seite, im östlichen Sibirien, leben sechs Millionen Menschen auf einer Fläche, die ein Drittel des Landes umfasst. Russland und China steht sich gegenüber. „Die Russen haben das meiste Land, die Chinesen die meisten Menschen.“ (Seite 144) Erst 2008 kam es zu einem friedlichen Nebeneinander. Eine Vereinbarung regelt die 4300 Kilometer lange Grenze. Die Nachbarstädte Heihe auf chinesischer Seite und Blagoweschtschensk auf der russischen Seite des Flusses bilden eine Freihandelszone. Bedingt durch die Sanktionen des Westens nach der Okkupation der Krim wurden die Beziehungen zwischen Russland und China ausgebaut und eine 4000 Kilometer lange Gaspipeline gebaut. Aber Europa und die USA haben ein zehn Mal größeres Handelsvolumen für China als Russland. Ein Besuch in so einem Freihandelseinkaufszentrum zeigt aber, dass es nicht funktioniert. Einkaufen ist für Russen zu teuer geworden. Vor einigen Jahren zahlten sie für einen Yuan 5 Rubel und heute 10.
Mongolei
Mit dem Zug geht es weiter von Peking nach Ulaanbaatar. Sie wählte einen Zug, der nur bis zur mongolischen Hauptstadt fuhr und nicht nach Moskau. Wenige Passagiere waren unterwegs. Sie war der einzige Passagier im Schlafwagen. Die Grenzkontrollen waren intensiv. Die Fahrt dauerte 27 Stunden. Neben persönlichen Eindrücken wird die Geschichte des Landes erzählt. Beginnend beim Nationalhelden Chinggis Khaan, über die Besetzung durch die Chinesen und Sowjets bis zum Jahr 1990 und dem Ende des kommunistischen Regimes. 1946 erkannte China die Mongolei als unabhängiges Land an, aber erst 1961 wurde es als unabhängiges Mitgliedsland in die UNO aufgenommen. Eine grundlegende gesellschaftliche Änderung brachte das Ende des Kommunismus. Die Nomaden zogen in die Hauptstadt, die sich in zwei Jahrzehnten von einer halben Million auf 1,5 Millionen verdreifachte. Ein Mönch im Kloster Erdene Zuu erzählt, wie das zutiefst religiöse Land nach Übernahme durch die Russen 1920 verändert wurde. Klöster wurden geschlossen und Religionsführer ermordet. In 1 ½ Jahren wurden 10.000 Lamas getötet. Ebenso Intellektuelle, hohe Militärs und Politiker. Erst 1992 durfte man wieder Mönch werden, so wie der Erzähler. Stalin wollte das Kolchosen System einführen und verlangte von den Nomaden ihren Viehbestand dem Staat zu überlassen. Diese aber töten ihre Tiere liebe, als sie dem kommunistischen Staat auszuliefern. Die Folge war eine Hungersnot. Militärisch wurde der Aufstand niedergeschlagen. Die neu gewonnene Religionsfreiheit brachte die Hälfte der Mongolen wieder zum Buddhismus zurück und die Klöster wachsen wieder.
Fatland besuchte dann Rentierhirten, die als Eremiten in der Taiga allein leben. Manche von ihnen sind auch Schamanen. Sie wohnen weit weg von ihren Familien und den nächsten Ortschaften. Es ist kalt. Ein Gesprächspartner aber meint „Erst bei minus 40 Grad kann man von Kälte reden.“ (Seite 191) „Nein hier ist es angenehm. Ich friere nur, wenn ich ins Dorf muss, nach Tsagaannuur. Manchmal dauert die Reise fünf Tage durch den Schnee. Wenn wir in die Stadt müssen, reiten wir auf einem Rentier. Sie sind im Winter schneller als Pferde, rutschen nie aus, stolpern niemals.“ (Seite 189) Fatland besucht auch einen Obertonsänger, der ihr eine individuelle Vorführung bietet. Mit einem Auto fuhr sie zur chinesischen Grenze, um dann über Xinjiang nach Kasachstan zu gelangen. Die Straße zur chinesischen Grenze war dann besser. In der Mongolei sind sie meist ohne Straße querfeldein gefahren. Die bessere Straße vor der Grenze zu China signalisierte auch die Veränderung nach dem Ende des Kommunismus. „Nachdem die Mongolei 1990 eine Demokratie wurde, haben sich die Vorzeichen verändert. In der Zeit des Kommunismus wurden fünfundneunzig Prozent des Handels mit der Sowjetunion abgewickelt. Heute ist China, der alte Feind der Mongolei, der dediziert wichtigste Handelspartner. Über achtzig Prozent des gesamten Exports gehen an die Chinesen.“ (Seite 205)
Kasachstan
Um nach Kasachstan zu kommen, musste Fatland nochmals ein Stück durch China. Die, wegen der Unterdrückung von Minderheiten im Westen in die Presse gekommene Provinz Xinjiang grenzt an acht Länder: Mongolei, Afghanistan, Kasachstan, Kirgisistan, Tadschikistan, Pakistan, Indien und Russland. Die Provinz beherbergt über 50 Minderheiten. Die größte von ihnen ist jene der Uiguren mit fast 50 Prozent. Sie begannen sich als eigener Stamm zu deklarieren, als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Sowjetunion ihre Nachbarvölker in Nationen einzuteilen begann und die Sowjetrepubliken Kasachstan und Usbekistan entstanden. In sehr sachlicher Form wird über den Widerstandskämpfer der Uiguren berichtet. Der Fokus auf Russlands Grenzen ging nicht verloren und so besuchte die Buchautorin die Stadt Urumtschi, wohin während der russischen Revolution viele Russen flüchteten. Sie war schon einmal in Kasachstan und damals hat sie sich geschworen dieses Land niemals mehr zu besuchen. Für das vorliegende Buch kam sie wieder. Sie berichtet vom zweitgrößten Gefangenenlager der UdSSR – Karaganda – wo Stalin zwischen 1929 und 1953 (seinem Tod) 800.000 politische Sträflinge internierte. Hier war auch ein Atomwaffen-Experimentiergelände. Über zwei Millionen Menschen wurden dabei verseucht. Kasachstan war die letzte Sowjetrepublik, die sich als selbstständig erklärte und ist immer noch durch Einrichtungen, wie der Raumfahrtstation Baikonur, von der die Reisende aber wenig berichten konnte, weil „die Verantwortlichen bei einer Konferenz weilten“. Sie reiste 27 Stunden mit dem Zug an und bezahlte 1000 Dollar“ Eintritt“ und bekam nichts zu sehen.
Als Leser kommt man bei dieser Reise in kleine Dörfer und zu Kleinbauern mit wenigen Tieren, wo es aber herzliche Gastfreundschaft gibt. Aber auch die neue Hauptstadt Astana wurde besucht. Ursprünglich war es eine kleine Provinzstadt – Zelinograd – die 1997 zur neuen Hauptstadt ausgerufen wurde. Eine schnell wachsende Stadt, in der die Infrastruktur nicht Schritt halten kann und Autostaus an der Tagesordnung sind.
Aserbaidschan
Mit der Fähre kam sie über das kaspische Meer nach Baku. Eine Transportform, die es nicht so genau nahm und deren Abfahrt sich oft um Tage verzögern kann. Außerdem ist die Strecke nicht sehr frequentiert. Nur wenige Passagiere waren am Fährschiff. Wie bei allen Ländern wird ein historischer Abriss gegeben. So etwa, dass Aserbaidschan sich schon 1917 als unabhängig von Russland erklärte. Das dauerte aber nur drei Jahre, bis die Bolschwiken das Land wieder besetzten. Baku war für 80 Prozent der Ölproduktion der UdSSR verantwortlich. Die Schlacht um Stalingrad sieht Fatland auch als Schlacht um die Ölfelder von Baku, denn nach Fall von Stalingrad wäre für Hitler dieser Weg frei gewesen und der Zweite Weltkrieg hätte einen anderen Ausgang genommen. Auch hier fährt sie möglichst nahe an die russische Grenze heran und besucht die Stadt Schäki.
Bergkarabach
Da die Grenze zwischen Bergkarabach und Aserbaidschan geschlossen war, musste sie über Georgien nach Bergkarabach reisen. „Zum ersten Mal auf meiner Reise war ich im christlichen Teil der Welt. Der Fahrer, der mich nach Tiflis fuhr, bekreuzigte sich an jeder Kirche, an der wir vorbeifuhren, drei Mal.“ (Seite 297) So kam sie in diese abtrünnige Republik, deren Hauptstadt Stepanakert eine verschlafene Provinzstadt war. Das Land mit 150.000 Einwohnern wird finanziert von Exil-Armeniern. Auch hier ging es um Krieg und die Autorin besuchte das Museum der toten Soldaten. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es schon Unruhen und Städte wurden in Schutt und Asche gelegt. 1992 besetzte es die armenische Armee und die Aserbaidschaner mussten flüchten.
Georgien
Nach diesem „Sidestep“ kehrte sie wieder nach Georgien zurück. „Georgien ist eines meiner Lieblingsländer, es ist ein Land, das absolut alles hat: Im Norden finden sich einige der höchsten Berge Europas, im Westen kann man im Schwarzen Meer baden, im Osten gibt es Weingüter von Weltrang.“ (Seite 307) Es ist ein Land mit gutem Essen und Gastfreundschaft. Aber auch hier dominierte der Krieg und Auseinandersetzungen mit Russland. 1999 marschierte Russland in Tschetschenien ein. Hunderttausende Menschen wurden getötet oder flohen. Wichtige Verkehrsverbindungen sind in Richtung Russlands ausgerichtet. Auch hier gibt es zwei abtrünnige Republiken: Abchasien und Südossetien, die sich in den frühen 1990er Jahren lösten. Schewardnadse, der frühere russische Außenminister brachte Frieden. Der berühmteste Mann aus Georgien war Stalin. Für viele Auseinandersetzungen der Großmächte Russland und der NATO musste das Land herhalten. Russland versetzt laufend den Grenzzaun. Fatland besucht einen Mann, der eines Tages aufwachte und im Nachbarland war. Der Zaun war über Nacht verschoben worden. Um seine Pension abheben zu können, muss er heimlich (und verbotenerweise) über den Zaun klettern und sich in seinem Heimatland das Geld abholen, das er aber nicht eintauschen kann, weil man auf der anderen Seite des Zauns nur Rubel akzeptiert. Die abenteuerliche Buchautorin besucht auch die abtrünnigen Republiken. Viele Häuser sind noch Ruinen vom Krieg
Abchasien
Eine abtrünnige Republik von Georgien hat nur 250.000 Einwohner. Zu klein, um internationale anerkannt zu werden. Russland beschützt das Land, hat Truppen stationiert, den Rubel als Währungsmittel eingeführt und bringt jährlich im Sommer Touristen ans Schwarze Meer. Nicaragua und Venezuela haben Abchasien anerkannt. So wie in vielen Ländern des Kaukasus gab es hier in der Vergangenheit, bis in die heutige Zeit Kriege. Die Autorin des Buches definierte es sehr gut, indem sie sagte „Der Krieg, der es im Westen kaum in die Zeitungen schaffte, war geprägt von fürchterlichen Übergriffen auf beiden Seiten, immer wieder kam es zu Scharmützeln unterbrochen von flüchtigen Waffenstillstandsabkommen, die immer wieder gebrochen wurden.“ (Seite 338) Trotz Friedens zeigte sich Abchasien als zerstörtes Land: „Wir fuhren an halb niedergebrannten Gebäuden, verlassenen Dörfern und Fabriken vorbei, die seit der Sowjetzeit nicht mehr in Betrieb waren. Die Felder waren verwuchert und nicht bestellt, die Straßen in einem elenden Zustand, nur notdürftig instandgehalten und voller Schlaglöcher.“ (Seite 335) Unter Gorbatschow zeigte sich die tiefe Spaltung zwischen Georgien und Abchasien: Abchasien wollte Teil der Sowjetunion sein und Georgien wünschte sich die Unabhängigkeit, die 1991 ausgerufen wurde.
Ukraine
Wieder zurück in Georgien nahm die Berichterstatterin eine Fähre, die sie nach Odessa und damit nach Europa brachte. Alles wirkte wieder geordneter. „Im Gegensatz zu der Fähre über das Kaspische Meer hatte die Schwarzmeerfähre zwischen Batumi und Odessa feste Abfahrtszeiten.“ (Seite 353) „Ukraine“ bedeutet „Land an der Grenze“. Viele Gesprächspartner der Autorin glauben, dass hinter der Orangen Revolution 2004 die USA standen.
Fatland besucht auch eine schwedische Enklave in der Ukraine. Wer hätte das gedacht. Im 18. Jahrhundert wurden sie hier angesiedelt. Am Beispiel einer Familie wird das Schicksal dieser Leute beschrieben. Wie sie im Krieg als Feinde verfrachtet wurden. Viele kamen um. Einige wanderten wieder nach Schweden zurück, aber viele von ihnen kamen doch wieder zurück in die Ukraine. Der Besuch der Verwandten war schwierig. Im Zuge des Krieges kam der Vater der Familie in Kriegsgefangenschaft und wurde nach Schweden abgeschoben, wo er mit einer anderen Frau ein neues Leben begann. Erst spät lernen die Kinder, die nun schon Erwachsene geworden waren, ihren Vater kennen ….
Sehr sachlich wird die Geschichte der Krim aufgezeigt. Im Krieg wurden ganze Familien umgesiedelt. Kinder kamen in der Fremde zur Welt. Wuchsen etwa in Usbekistan auf. Lernten usbekisch und tatarisch. Als sie wieder in ihre Heimat Krim zurückkamen, konnten sie kein russisch. Sie waren in ihrer eigenen Heimat Fremde geworden. Wie sich im Laufe der Geschichte die Besitzverhältnisse änderten. Neu auch, dass das russische Territorium „Krim“ 1954 von Nikita Chruschtschow der Ukraine geschenkt wurde. Putin holte es wieder zurück.
Kiew wurde im Zweiten Weltkrieg ziemlich zerstört. Hier wurden erstmals ferngesteuerte Bomben installiert. Als die rote Armee die Stadt vor den anrückenden und überlegenen Deutschen räumen mussten, installierten sie diese neuen Bomben und zündeten sie, nachdem die deutschen Soldaten die Stadt besetzt hatten. Anschaulich wird die Geschichte auch durch Zeitzeugen beschrieben. So besuchte die Autorin ein Krankenhaus, in dem Soldaten aus dem Krieg im Osten des Landes lagen. Einer formulierte es so: „Ich gehöre zu den Ersten, die eingezogen wurden, aber ich habe mich gefreut. Dies ist Russlands Krieg gegen uns. Putin ist wie Hitler. Wie kann ein Land einfach daherkommen und ein anderes Land einnehmen, im 21. Jahrhundert.“ (Seite 414) Dann fügte er noch hinzu „Fast alle Männer meiner Familie waren Soldaten. Mein Großvater war in Berlin. Mein Vater auf Kuba. Mein Onkel ist während des Krieges zwischen Israel und Ägypten in Syrien gewesen. Mein Bruder war in Afghanistan. Ich bin in Donezk gelandet. Es muss jetzt gut sein. Ich hoffe, dass mein Sohn davonkommt.“ (Seite 416) Dieses Gespräch fand 2017 statt. Heute wäre es noch treffender.
Nach der Hauptstadt besuchte sie noch Tschernobyl und beschreibt die derzeitige Situation dort. Auch hier wieder mit Berichten von Zeitzeugen und Leidtragenden.
Traf sie überall auf Menschen, die russisch sprachen, so fand sie in Lwiw – Lemberg – eine rein ukrainische Stadt. Auch eine Stadt, die im Zweiten Weltkrieg nicht zerstört wurde.
Donezk
In der Kapitelüberschrift nennt sie dieses Gebiet „Die jüngste abtrünnige Republik der Welt“. 2012 wurde hier noch die Fußball-Europameisterschaft ausgerichtet. Donezk war eine der wohlhabenden Städte der Ukraine. Zur Entstehung des Buches war es Kriegsgebiet. Mit vielen Sondergenehmigungen gelang es das Gebiet zu besuchen. Es ist nach Russland ausgerichtet. Ein Gesprächspartner sagt „Das ganze Donezbecken soll wieder ein Teil Russlands werden. Die Menschen in Mariupol und Kramatorsk sehnen sich danach, befreit zu werden!“ (Seite 395) Während ich diese Zeilen lese, berichten die Medien über den Überfallskrieg und die Zerstörung der Ukraine durch russische Truppen. Bereits 2015 wurde viel zerstört. Nur alte Leute sind zurückgekommen und versuchten in den Ruinen Unterschlupf zu finden. Andere wünschen sich wieder: „Wir hoffen, dass Donezk wieder zu einem Teil der Ukraine wird.“ (Seite 401) Es war ein gefährlicher Ausflug. Die Begleiterin war selbst geflüchtet und kam nach einigen Jahren wieder zurück. Mit Tränen in den Augen fuhren sie über die Grenze wieder zurück in die Ukraine. Bedingt durch die geschaffene Infrastruktur während der Fußballmeisterschaft, konnte Fatland mit einem Expresszug nach Kiew zurückfahren.
Weißrussland
Von Lwiw nach Brest waren es weniger als 300 Kilometer. Weißrussland – so die Autorin – hat historisch nie existiert. 1918 genoss das Land eine kurze Periode der Unabhängigkeit. Nach einigen Monaten wurde es zu einer Sowjetrepublik. Russisch ist die Hauptsprache. Nur 15 Prozent aller Bücher erscheinen in weißrussischer Sprache. 1939 marschierten die Sowjets in Polen, dem Baltikum und Finnland ein und 1941 kamen die deutschen Truppen. Das flache Land konnte nur schwer verteidigt werden. Im Zweiten Weltkrieg wurden 9000 Dörfer niedergebrannt. In Wizebsk suchte Fatland nach Spuren von Marc Chagall, der hier aufgewachsen ist und später zurückkam. Als Jude hatte er kein einfaches Leben. Trotzdem schaffte er es, in Sankt Petersburg zu studieren und später nach Paris auszuwandern. Chagall wollte seine Werke seiner Heimatstadt vererben, aber die lehnten ab. Jetzt gibt es ein Museum, das keine Originale besitzt. Viele Juden lebten in Weißrussland. Fast alle wurden vernichtet. 100.000 lebten in Minsk in einem Ghetto. Eine ehemalige Zirkusakrobatin erzählt über das Leben im Ghetto. Ein unfassbares Leben wird hier beschrieben. Auch mit dem ehemaligen Präsidenten des Landes, dem Wissenschaftler Stanislau Schuschkewitsch konnte sie ein Gespräch führen. Sein Nachfolger Lukaschenko verordnete, dass er nur eine Pension von zwei Dollar pro Monat bekam. Ein Menschenbild anderer Natur. Um einen guten Preis für Öl und Gas zu bekommen, lud er den russischen Präsidenten Boris Jelzin zu einer Jagd ein. Mit dabei der ukrainische Präsident. In der Jagdhütte wurde die Auflösung der UdSSR beschlossen.
Litauen
Mit einem Bus kam sie nach Litauen. Schlagartig waren die Straßen besser und internationale Geschäfte tauchten auf. Vilnius, die Hauptstadt ist eine litauische Stadt. Im ganzen Land sind nur fünf Prozent Russen. Vor dem Ersten Weltkrieg war die Situation anders. Damals bestand die Mehrheit der Bevölkerung aus Juden, an zweiter Stelle Polen. 20 Prozent waren Russen und nur ein Prozent Litauer. Deutsche, Polen, Russen wechselten sich in der Herrschaft ab. 1990 erklärte sich Litauen als erste Sowjetrepublik unabhängig. 1991 kam es noch zu Scharmützeln. An einer Grenze zu Russland kam es zu einem Überfall, bei dem die litauischen Beamten getötet wurden. Nur einer überlebte und die Autorin traf ihn zu einem Gespräch. In persönlichen Gesprächen mit Menschen des jeweiligen Landes wird die Geschichte und die Beziehung zu Russland beschrieben. Beim Besuch der Ostseeküste erinnert sie sich, dass hier der Deutsche Thomas Mann ein Haus hatte.
Polen
Gegenüber von Litauen liegt Danzig. Von Kaunas war es aber eine lange Reise bis Danzig. Erst im März 1945 konnte die rote Armee die Stadt einnehmen. 90 Prozent der Altstadt war durch das intensive Bombardement der Alliierten zerstört. Polen war damit theoretisch unabhängig, wurde aber als kommunistische Diktatur von der Sowjetunion aus geführt. 1989 wurden hinter dem Eisernen Vorhang in Polen die ersten freien Wahlen abgehalten. Solidarnosc gewann überlegen und ihr Führer Lech Walesa wurde erster Präsident. Die ehemalige Werft, in der die Aufstände begannen, ist heute ein Museum. Zu Beginn wurden auch heikle Themen wie die Mitverantwortung der Polen bei der Judenverfolgung, behandelt, daher wurde der Direktor von der konservativen Regierung abberufen.
Polen wurde oft besetzt und die Grenzen verschoben. Zu Russland gab es fast immer ein gespaltenes Verhältnis. Während des Zweiten Weltkriegs wurden auf Befehl Stalins 20.000 polnische Offiziere und Soldaten erschossen. Als der polnische Präsident und Parlamentsvertreter die Gedenkstätte besuchen wollten, stürzte die Maschine ab. Noch heute glauben Politiker in Polen, dass es eine Sabotage Russlands war.
Lettland
Nachdem sie ohne jegliche Kontrolle die Grenze zwischen Litauen und Lettland passiert hatte, besuchte sie die Stadt Daugavpils (russisch Dvinsk). Es ist die zweitgrößte Stadt Lettlands und die größte Stadt innerhalb der Europäischen Union, in der die Mehrheit Russen sind. Lettland hat generell ein negatives Wachstum. 1991 lebten über 2,6 Millionen Menschen im Land. 2016 weniger als 2 Millionen. Russen, die im Land wohnten, konnten die lettische Staatsbürgerschaft bekommen, wenn sie eine Prüfung in lettischer Sprache machten. Bis heute (Zeitpunkt des Besuchs der Autorin 2017), lebten so 300.000 Russen ohne Staatsbürgerschaft. Auch der Fahrer Fatlands hatte keine und sprach kein Wort lettisch. Er brauche diese Sprache nicht, da alle russisch verstünden. Auch hier traf sie einen Zeitzeugen: den 92jährigen Visvaldis Läcis. Er war in Lettland – damals ein freies Land – geboren. Als er 16 Jahre alt war fielen die Russen ein. Während der sowjetischen Okkupation wurden tausende Letten deportiert oder ermordet. Er, ein Schriftsteller, meinte: „Wir haben unter Schweden, Polen, Deutschen und Russen gelebt, und von allen waren die Russen am schlimmsten.“ (Seite 492) Nach dem Hitler-Stalin-Pakt wurden die Deutschen 1939 evakuiert. Heim ins Reich. 1943 wurden 80.000 Letten in die Waffen-SS eingezogen. Nachdem die Sowjets die Deutschen vertrieben hatten, kam er ins Gefängnis. Da es nach dem Krieg zu wenige Männer gab, wurde er freigelassen. Er studierte und wurde mehrmals von der Universität ausgeschlossen. Obwohl er die besten Noten hatte, durfte er nicht promovieren. Er gehörte zu „Lettlands weißen Negern“. Er war zwei Mal Abgeordneter im lettischen Parlament. In einer neofaschistischen Partei, die für ein Verbot von Russisch an lettischen Schulen und eine Deportation aller Russen eintrat. Er meint „Die Russen sind eine Bedrohung für Lettland.“ (Seite 496) Von den fast 300.000 Russen ohne Staatsbürgerschaft will die Hälfte einen Anschluss an Russland.
Ein anderer Gesprächspartner erzählt, dass 1949 an einem einzigen Tag 42.000 Letten nach Sibirien deportiert wurden. In Viehwagens wurden sie transportiert. 1956 starb sein Vater im Gefängnis und die Mutter 1960, während er beim Militär Dienst machte. Mit 26 Jahren – nach Beendigung des Militärdienst – kam er das erste Mal nach Riga zurück, aber es war alles fremd für ihn. Erst 1993, als Lettland selbstständig wurde, bekam er den Hof seiner Eltern zurück.
Estland
Die Grenze zwischen Lettland und Estland verläuft mitten durch die Stadt Valka. Viele Einwohner sind auf die estnischen Seite gewechselt, weil sie dort mehr verdienten und ein besseres Sozialsystem vorfanden. An der Universität Tartu traf die Autorin eine Professorin, die in den 1990er Jahren Sozialministerin war. Sie war eine Kämpferin für die Unabhängigkeit und erzählte, wie sie 1989 mit 2 Millionen Menschen eine Kette bildete. „Dieser Augenblick war vielleicht der Höhepunkt meines Lebens.“ (Seite 509) Die Grenze zwischen Russland und Estland wurde von beiden Ländern nicht ratifiziert. In Städten wie Navra wohnen fast ausschließlich Russen. Sie brauchen keine estnische Sprache.
Finnland
Bei dieser Reise, so schreibt sie, hatte ich in Finnland erstmals das Gefühl nach Hause zu kommen. Mit 18 Jahren ging sie in Helsinki zur Schule, bevor sie für zwei Jahre ins Lyzeum nach Lyon übersiedelte. Finnland war für sie wie ein Heimkommen. Die Geschichte Finnlands erzählt sie in diesem Buch mit der Biografie des Freiherrn Mannerheim. Er diente im russischen Heer und baute die finnische Armee für den unabhängigen Staat auf. Finnland schwankte im Zweiten Weltkrieg zwischen Deutschland und Russland. Mit Neutralität versuchte das Land durchzukommen. Es wurde teilweise mit den Deutschen kooperiert und später einigte man sich mit den Sowjets und vertrieb die Deutschen, die zum Abschied Städte wie Rovaniemi dem Erdboden gleich machten. Bei Friedensverhandlungen verlor Finnland Teile seines Landes, wurde aber unabhängig. Mannerheim war in allen Veränderungen involviert und ist heute in Finnland eine häufig beschriebene Person. Eine 75jährige erzählt im Interview, dass ihre Familie 1939 ein Haus gebaut hatte. Nach 5 Jahren wurden sie evakuiert. Die Halbinsel, auf der das Haus stand, wurde ein sowjetischer Militärstützpunkt. Die 7.000 Einwohner mussten innerhalb von wenigen Tagen ihre Häuser verlassen. Finnland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine halbe Million Vertriebener. 1955 gab Chruschtschow den Militärstützpunkt an Finnland zurück, so wie er die Krim den Ukrainern gab. Das Haus der Erzählerin existierte nicht mehr. Weiter im Norden veränderten sich die Grenzen mehrmals. Von 1920 bis 1944 grenzte Norwegen nur an Finnland und Schweden und nicht an Russland. 1944 musste Finnland wieder Teile abgeben. Die Menschen im Gebiet von Petsamo mussten umgesiedelt werden. Eine 83jährige Frau erzählt, wie dies damals war. Wie sie in Finnland lebte, ohne finnisch zu sprechen. Wie sie im Krieg nach Schweden kam und dort zur Schule ging und als sie zurück kam nur schwedisch sprach.
Norwegen
Als der Vater der Autorin hörte, dass seine Tochter zu Fuß und mit dem Kanu die Grenze zwischen Norwegen und Russland entlangfahren will, entschied er sich sie zu begleiten. Es war die einzige Wegstrecke, die sie nicht allein unternahm. Diese Grenze ist 196 Kilometer lang. Das sind aber nur acht Prozent der norwegischen Grenze. Die norwegische Stadt Kirkenes hat einen regen Austausch mit der russischen Stadt Nikel. Die Finnen „fahren mit Kind und Kegel nach Nikel auf der russischen Seite, um Wodka und Zigaretten zu kaufen und zu tanken. Und die Russen kamen in Scharen, um Sportausrüstung und Pulverkaffee zu kaufen … Außerdem kauften sie Windeln, die hier tatsächlich billiger sind als in Russland.“ (Seite 573) Kirkenes war im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen besetzt. Eine Neunundsiebzigjährige erzählt, wie sie 1944 erlebte, als sie von den Russen befreit wurden. Die abziehenden deutschen Truppen brannten noch alles nieder. Viele hatten keine Häuser mehr und wohnten in Stollen eines Bergwerks. Nach einem Jahr zogen sich die Russen wieder aus Norwegen zurück. Russland machte wenig später der norwegischen Regierung denselben Vorschlag wie Finnland, einen Nichtangriffspakt einzugehen. Norwegen entschied sich dagegen und trat der NATO bei.
Der Vater fuhr mit der Tochter im Kanu am Grenzfluss entlang nach Norden. Norwegische Soldaten zeigten ihnen die militärischen Einrichtungen. Einer der Offiziere erzählte, wie es 1968 fast zu einem Krieg kam, als an der Grenze Panzer und Militärkonvois auffuhren, die sich aber Gott sei Dank nach einigen Tagen wieder zurückzogen. Norwegen hatte mit Russland nie Krieg. „Norweger und Russen im Großen und Ganzen sind geprägt von gegenseitigem Respekt und Verständnis.“ (Seite 574)
Zusammenfassung
Die Autorin resümiert: Im Laufe des Jahres hatte sie 20.000 Kilometer entlang der russischen Grenze mit Hilfe von Inlandsflügen, Schnellzügen, Kleinbussen, Pferden, Taxis, Lastschiffen, Kajaks und zu Fuß zurückgelegt. Sie war durch 14 Länder und 3 abtrünnige Republiken gereist. „Keines der Länder, die ich besucht habe, war ohne Wunden oder Narben in Folge der Nachbarschaft zu Russland.“ (Seite 601) Sie wagt auch eine Prognose, wenn sie schreibt: „Das größte Land der Erde hat nur geringes Selbstvertrauen, wirtschaftlich geht es bergab, die Bevölkerung schrumpft. Der Bedarf nach Selbstbehauptung und Anerkennung ist umso größer. … Das russische Imperium wurde so groß, gerade weil die jeweiligen Herrscher jederzeit alle sich bietenden Möglichkeiten ergriffen, um die Grenzen zu erweitern, koste es, was es wolle. Nur selten vermieden sie dabei Brutalität, schmutzige Tricks oder auch einen weiteren Krieg.“ (Seite 602) „Langfristig ist es schwer zu beurteilen, ob Russland in einer Generation, in hundert oder zweihundert Jahren mit seinen nahezu zweihundert ethnischen Gruppen und Nationalitäten, mit seinen siebzehn Millionen Quadratkilometern und seinen sechzigtausend Kilometer langen Grenzen als ein zusammenhängendes Ganzes weiterhin existieren kann.“ (Seite 603)
Viele Grenzen wurden bei dieser Reise überschritten und daher möchte ich hier die Definition der Autorin von Grenze wiedergeben: „Eine Grenze zu überqueren, gehört zu den faszinierendsten Dingen, die es gibt. Geographisch gesehen ist der Schritt minimal, nahezu mikroskopisch. Man bewegt sich nur einige wenige Meter, doch man befindet sich plötzlich in einem anderen Universum. Manchmal ist absolut alles anders, vom Alphabet und der Währung bis hin zu Gesichtern, Farben, Geschmäckern, bedeutenden Jahreszahlen und den Namen, die die Menschen anerkennend nicken lassen.“ (Seite 223) Meine Buchbesprechung ist etwas lang geworden, aber das Buch ist mit über 600 Seiten auch dick. Fast jedes der 14 hier beschriebenen russischen Nachbarländer würde ein eigenes Buch ergeben.