Cordula SIMON: Die Wölfe von Pripyat#
Cordula SIMON: Die Wölfe von Pripyat / Roman, Residenz Verlag, 2022 / Rezension von Guenther Johann
SIMON, Cordula: „Die Wölfe von Pripyat“, Salzburg Wien 2022
Der im Titel des Buches verwendete Ort Pripyat war mir unbekannt. Erst durch das erste „Friedengespräch“ zwischen Russland und der Ukraine am 28. Februar 2022 erfuhr ich, dass es in der Ukraine nahe der Grenze zu Weißrussland liegt. Aber auch die Thematik erinnert in vielen Zügen an die „Eroberung“ durch die russischen Truppen.
Die Autorin handelt das Thema wie George Orwell mit seinem Buch „1984“ ab. Man könnte es als Release 2.0 der Orwell Geschichte sehen. Vieles ist in Ansätzen schon realisiert und wir leben damit. Vieles ist sicher noch im Kommen und so gesehen ist es kein Science-Fiction Roman, sondern realitätsbezogen. Simon schließt aber neben dem Einfluss der Computertechnologien auch die Umwelt und Veränderung der Gesellschaft mit ein. Aber nicht aus tagespolitischer Sicht, sondern weitblickender. Etwa, dass man beim Bau eines Kraftwerks, das Lava aus dem Kern der Erde zum Heizen verwendet, einen Vulkanausbruch erzeugte, der ungeahnte Folgen hatte. Das hier beschriebene Reich schickt die Aschewolken auf das Gebiet eines Nachbarstaats. Das große, bevorstehende Unheil sieht die Autorin aber in einem Sonnensturm, der das gesamte Informatiksystem vernichten wird. Darauf bereitet sich einer der Proponenten des Buches, ein Wetterjournalist, vor. Er wird verfolgt und kommt letztlich ums Leben. Das diktatorische Regime lässt keine Gegenmeinung aufkommen. Alles wird durch Algorithmen entschieden. Letztlich braucht es auch keinen Führer mehr. Das System verwaltet sich selbst. Menschen werden künstlich manipuliert. Vor der Geburt bestimmen die Eltern, welche Qualifikationen ihr Kind haben soll. Dem entsprechend werden sie eingestuft und bekommen eine Rankingnummer zugeordnet. Die Überqualifizierten werden aber zunehmend zum Problem.
Alle Menschen sind gechipt und so laufend im Netz bei all ihren Handlungen nachverfolgbar. Sandor Karol erinnert sich: „Ein kleiner Stent in der Hand. Jemand mit bunt gefärbter Haut und vielen Löchern in Nase und Ohren hatte ihn in seine Haut gestochen, zwischen Daumen und Zeigefinger. Das war sein Ausweis, das war ein bankaccount, seine Adresse, darin war alles verzeichnet, was er jemals virtuell getan oder gesagt hatte.“ (Seite 25) Das System hatte sogar Berechtigungen in den Hormonhaushalt und in sensorische Wahrnehmungen einzugreifen. „Alles war unter Kontrolle: die Träume, die Launen … und die Kontoeinstellungen.“ (Seite 37) Ähnlich wie Alexa von Amazon, bekam dieser Chip einen Namen und beantwortet alle Fragen des Besitzers. Politisch gab es aber nur ein Netz. „Alle Informationen von nur einem Anbieter zu bekommen, zu scrollen, war so, als bettelte man darum, von Propaganda gelenkt zu werden.“ (Seite 29) Selbst das Wahlrecht hatte man an den „Log“ abgegeben, weil sich die Jugendlichen nicht mehr für Politik interessierten. Auch eine Zeitmaschine war entwickelt und in einer Box in der Wohnung – ähnlich einer Saunakabine – konnte man die Zeit und deren Lauf dehnen. Selbst das Sterben soll wiederholbar sein. Also nicht ein verlängertes Leben, sondern ein mehrmaliges Wiederauferstehen. Körperteile können nachwachsen oder ausgetauscht werden, so wie Kata neue Augen bekam, um bei den Augenerkennungsgeräten als jemand anderer registriert zu werden. Es ging so weit, dass „der Log nicht fragte, ob er auf die Nervenenden des Mastdarms zugreifen konnte, um das passende Klopapier für einen zu bestellen.“ (Seite 248) Für alte Menschen, die unter normalen Umständen Dinge vergessen, gab es einen eigenen Speicher für die Vergangenheit, auf die das eigene Gehirn zugreifen konnte. Was nicht realisiert wurde, war ein Gen, dass alle Menschen zueinander nett waren. Deswegen kam es zu Kriegen, was wieder auf Pripyat und die Ukraine zurückführt. Eine Realität die heute existiert. Im Buch ist es ein Krieg der Wölfe, der Abtrünnigen.
Die Handlung des Buches verläuft innerhalb einer Gruppe, die sich in einem Sommerlager befindet. Sie sollen hier zu „besseren“, folgsameren Menschen umerzogen werden. Sie durchschauen das System: „Wer in einer Diktatur lebt, bemerkt das oft nicht. Sie reden hier von Menschlichkeit, aber sie wollen uns zu Maschinen machen.“ (Seite 174) Die Gruppe bricht aus dem Lager aus. Sie suchen die „goldene Stadt“, wo es mehr Freiheit gibt. Eine abenteuerliche Reise stand bevor. Einer schneidet sich den Chip heraus, taucht in den Untergrund. Er lebt als Einsiedler und schneidet alle Sendemasten um, um auch virtuell isoliert zu sein. Aber man findet ihn. Die Mehrheit will ihn zum Führer machen. Er zeichnet eine Werberede auf: „Ich bin kein großes Licht, doch will ich in dieser Welt auch nicht im Dunkeln tappen. Vor den Toren unserer Wohnhäuser stehen Bewaffnete. Sie sollen den Frieden sichern, doch sind sie da, um uns einzuschüchtern. Unsere Gesetze garantieren uns Freiheit, doch wir wissen nicht mehr, was Freiheit bedeutet, da jene, die vorgeben, für Freiheit zu kämpfen, Einschränkungen wollen. Den Frieden zu sichern bedeutet, in Waffen zu stehen. … Wir haben die Freiheit unserer Gedanken aufgegeben. … Die Algorithmen kennen unsere Köpfe besser als wir selbst.“ (Seite 321) Als er sich schon als Sieger der Wahl sieht wird er verhaftet. Die Diktatur des Algorithmus erlaubt diesen Umbruch nicht. Alle Abtrünnigen werden gefunden, gestellt und verurteilt.
Orwell hat sein Werk 40 Jahre vor dem Titel des Buches 1948 geschrieben. Wird die Welt der Wölfe von Pripyat 2062 so aussehen? Ich denke, wir sind schon nahe dran.