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Gerhard ROTH: Eine Reise in das Innere von Wien.#

Gerhard ROTH: Eine Reise in das Innere von Wien. / Die Archive des Schweigens, Fischer, 1993 / Rezension von Guenther Johann

Gerhard ROTH: Eine Reise in das Innere von Wien.
Gerhard ROTH: Eine Reise in das Innere von Wien.

ROTH, Gerhard: „Eine Reise in das Innere von Wien. Die Archive des Schweigens“, Frankfurt 2015

Es ist dies der letzte Band des siebenbändigen Zyklus „Die Archive des Schweigens“. Mit viel Recherchearbeit präsentiert der Autor Wien im Untergrund in neun Kapitel. Wien aus einer anderen Perspektive. Unbekannt und „untergründig“. So sind die k.u.k. Hetztheater in Vergessenheit geraten. In Anlehnung an die römischen Gladiatorenspiele wurden hier verschiedene Tiere gegeneinandergehetzt. Die Arena war aber nicht so pompös als im antiken Rom. Lediglich Holzbauten, die im 18. Jahrhundert entstanden und später wieder verschwanden. In der Geschichte „Die zweite Stadt“ geht Roth auf die unterirdischen Gänge Wiens ein, die in manchen Belagerungen, wie den Türkenkriegen, die Stadt gerettet hatten. Heute sind es die weitverzweigten Kanalanlagen, die Wien unterminieren. Roth geht in seinen Schilderungen auch in die Umgebung und berichtet über die Seegrotte, dem unterirdischen See eines ehemaligen Gipsbergwerks in der Hinterbrühl.

Den Künstler der psychiatrischen Anstalt Gugging wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Vielen Besuchen waren notwendig, um diese Geschichte zu schreiben.

Mit dem Juden Berger wandert Gerhard Roth durch die Wiener Leopoldstadt und lässt sich ehemalige, jüdische Einrichtungen zeigen und erklären. Ein Stadtbezirk, der (fast) verschwunden ist. So weiß Roth zu berichten, dass nur mehr 500 Juden in der Leopoldstadt leben. Während des 3. Reiches waren 100.000 ausgewandert und 60.000 wurden in KZs ermordet. Immer wieder gab es Verbote und Verfolgungen der Juden in Wien, aber immer wieder wurden sie gebraucht und bekamen eingegrenzte Rechte zugesprochen. Manchmal gab es auch innenpolitische Zwiste, wie etwa der Wiener Bürgermeister Karl Lueger judenfeindlich vorging („Wer a Jud ist, bestimm i“) und ihnen Kaiser Franz Josef dagegen freundlich gegenüberstand. In der Reichskristallnacht wurden von den 95 Bethäuser 49 zerstört und heute existieren nur mehr elf.

Im Kapitel „Das Graue Haus“ wird man als Leser in die Vorgänge eines Gefängnisses eingeweiht. So erlebt man den Weg der Aufnahme eines Untersuchungssträflings. Aber auch alte Einrichtungen, wie die Köpfmaschine wird beschrieben. Von 1938 bis 1945 wurden noch 1184 Hinrichtungen vorgenommen.

„Die Hitlervilla“ ist ein Obdachlosenheim, in dem auch Adolf Hitler während seines jugendlichen Wienaufenthalts wohnte. Heute beherbergt es etwa 400 Männer. Nach vielen Besuchen erzählt Roth die Schicksale einzelner Insassen und deren Leben. Auch die „Aufseher“, deren Job kein leichter ist, kommen zu Wort. Alkohol, Drogen und Raufereien müssen sie schlichten.

Im ehemaligen „Narrenturm“, den 1784 Kaiser Josef II zur Unterbringung von abnormen Menschen bauen ließ, befindet sich heute das „Pathologisch-Anatomische Bundesmuseum“. Es beherbergt über 42.000 menschliche, aber auch tierische Präparate. Im Mittelalter galten Missbildungen noch als Wunder. Später wurden sie in Schaubuden vermarktet oder – wie im Dritten Reich – ermordet. Die ausgefallensten Kreaturen werden hier im Museum zur Schau gestellt: Menschen mit drei Köpfen, mehreren Armen, zusammengewachsene Kinder etc. Eine sehr übersichtliche Geschichte des Stephansdom wird auf zirka 50 Seiten geboten. Baugeschichtliches und Theologisches, aber auch Sagen und Überlieferungen werden wiedergegeben.

Der umfangreichste Teil des Buches wird dem Heeresgeschichtlichen Museum gewidmet. Gleich zu Beginn erfährt man, dass es als Kaserne und Produktionsstätte für Kriegsmaterial nach der Revolution von 1848 gebaut wurde. Heute beherbergt es ein Kriegsmuseum, wo man vieles über Waffen und Kriege erfahren kann. Dieser Abschnitt vermittelt Informationen auf mehreren Ebenen:

  • Mit dem Autor erlebt man eine virtuelle Führung durch das Museum.
  • Er erzählt über die Geschichte Österreichs und ihrer Kriege.
  • Die Geschichte des Museums selbst wird ebenfalls ausführlich abgehandelt.

Also eine mehrfache Information. Einige Beispiele:ßß - Zwischen dem Kaiser und seinem Feldherrn Wallenstein gab es Eifersüchteleien. Der Kaiser setzte ihn ab, musste ihn aber bei neuerlicher Kriegsgefahr wieder in den Dienst rufen. „Als Wallenstein geheime Friedenverhandlungen mit dem Gegner aufnahm, wurde er das zweite Mal abgesetzt, diesmal geächtet und aufgrund einer Verschwörung, die man in Wien gegen ihn anzettelte, am 25.2.1634 zu Eger ermordet.“ (Seite 201)
- Im 30-jährigen Krieg überlebten von den 18 Millionen Einwohnern des deutschsprachigen Raums nur 7 Millionen!
- Unter Maria Theresia wurde das Heer in Österreich verstaatlicht. Dadurch mussten Unterkünfte (=Kasernen) gebaut werden. Der Sohn Maria Theresias, Josef II, löste das teilweise durch Umwidmung von Klöstern in Kasernen.
- In der 23-jährigen Kriegsführung Napoleons starben vier bis fünf Millionen Menschen. Napoleon war der Schwiegersohn des österreichischen Kaisers und gleichzeitig sein Feind, gegen den er Krieg führte.
- Kaiser Franz Joseph hatte 51 Titeln.
- Im ersten Weltkrieg kämpften auf österreichischer Seite 8 Millionen Soldaten, von denen eine Million „fiel“ und zwei Millionen verwundet wurden. Alleine an der Front in den Dolomiten fielen 500.000 Österreicher und eine Millio0n Italiener.

Beachtlich auch die Größe des Museumsareals. 1908 bestand es aus 138 Steinbauten, 93 Baracken. Es beherbergte 18 Fabriken, die Militärprodukte erzeugten. Nach dem Ende der Monarchie überlegte man das Museum den USA zu verkaufen. Letztlich zerstörte man aber die vielen unterirdischen Gänge, die eine Verbindung zur Hofburg und nach Schönbrunn herstellten und führte die Anlage nach dem Zweiten Weltkrieg zivilen Zwecken wie der Post- und Telegraphenverwaltung und den Bundestheatern für Kulissenwerkstätten zu. Ja, es gab sogar Tennisplätze, auf denen ich selbst noch spielte.

Über vieles macht sich Roth auch lustig. So bringt er einen Vergleich der exerzierenden Soldaten mit Gruß- und Demutsbewegungen von Vögeln.

Das Buch ist kein Roman und auch literarisch nicht so hochstehend, aber es vermittelt viele Informationen, die in mühevoller Kleinarbeit zusammengetragen wurden.