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Franzobel: Einsteins Hirn#

Franzobel: Einsteins Hirn / Roman, Zsolnay, 2023 / Rezension von GUENTHER Johann

Franzobel: Einsteins Hirn
Franzobel: Einsteins Hirn

Franzobel: „Einsteins Hirn“, Wien 2023

Der Titel signalisiert Einstein, aber praktisch ist es eine Biografie des Pathologen Thomas Harvey. Einstein starb 1955 in einem kleinen Spital in New Jersey. Thomas Harvey führte auf Anweisung der Spitalsdirektion eine Obduktion durch. Dabei kam er auf die Idee, sich das Hirn des Wissenschaftlers zu behalten. Der Leichnam Einsteins wurde verbrannt und seine Asche von einer Verwandten an einem unbekannten Ort verstreut. Der ursprüngliche Ansatz des Pathologen war es, im Hirn Einsteins seine Genialität nachweisen zu können. Dazu fehlte ihm aber die Ausbildung. Über 40 Jahre ist dieses Hirn an seiner Seite, ohne dass es zu wissenschaftlichen Erkenntnissen kommt. Wie gesagt: das Buch ist eine Biografie des Pathologen Thoms Harvey, der wegen seines intensiven Bezugs zum Hirn, das mit ihm auch redete, mehrere gescheiterte Ehen hatte. Immer wieder war die Eifersucht zum Hirn der Scheidungsgrund. Harvey übersiedelte sehr oft in „Kleinstädte, die es nie in einen Reiseführer schafften, weil es dort nichts gab das eine Erwähnung lohnte, nichts, womit man Touristen locken konnte.“ (Seite 364) Immer wieder begann er mit einem neuen Job. Viele Aushilfsarbeiten übernahm er, bis er schließlich Landarzt in einer kleinen Gemeinde wurde. Aber auch hier ereilte ihn die Trennung von der Ehefrau. Letztlich verlor er auch seine Arztlizenz und musste als bald 80-jähriger als Hilfsarbeiter Geld. Geld, das er für Zahlungen an seine geschiedenen Frauen und Kinder brauchte. Verarmt lebte er am Schluss in einem stationären Wohnwagen. „Im Dauercampingplatz lebten Leute, denen die Armut bis zur Unterkante der Oberlippe stand: kinderreiche Einwanderer, Alkoholiker, Verrückte. Es gab dreizehnjährige Mütter, die sich für zwei Dollar prostituierten, mexikanische Crackdealer und greise Hippies. Für die meisten die letzte Station vor der Obdachlosigkeit.“ (Seite 500)

Zum 41. Todestag Einsteins brachte er das Hirn in jenes kleine Krankenhaus in New Jersey, in dem Einstein verstorben war. Harvey war ein gläubiger Mensch und aktiver Quäker. Da er mit dem Hirn reden konnte, versuchte er Einstein zum Glauben zu bekehrten. Das Hirn lehnte aber Religionen ab, weil alles wissenschaftlich begründbar sei. Dieser Diskurs zieht sich im Hintergrund durch das ganze Buch. „Da das Universum vor dreizehn Komma irgendetwas Milliarden Jahren entstanden ist, stellt sich die Frage, wo war Gott davor? Wenn Gott ein Teil des Universums ist, ist auch er endlich. Oder ist er außerhalb?“ (Seite 431) Viele Fragen und Diskussionen, die zu keinem Ergebnis führen. Das Hirn wird mit verschiedensten Religionen konfrontiert. Es kommt aber zu keiner Annäherung. Das Ende der Kommunikation tritt erst ein, als eine Formel preisgegeben wird, die der Pathologe von einer Ex-Freundin Einsteins in Russland besorgt hatte. Dann entschied er sich, das Hirn wegzugeben, aber niemand wollte es. „Die Laboratorien waren mehr an Hirnen von kriminellen interessiert.“ (Seite 528)

Der Roman mit über 500 Seiten hat viele Lesegenüsse zu bieten, etwa wenn Franzobel den Beruf des Pathologen beschreibt: „Pathologe ist wie Pianist in einem Bordell. Sie können noch so hervorragend spielen, es kommt trotzdem niemand wegen der Musik.“ (Seite 61) Oder wenn er die negativen Seiten des Fortschritts anhand des Menschen definiert und sagt „dass der Grund vieler Erkrankungen im aufrechten Gang begründet liegt. … Krampfadern, Hämorrhoiden, Sodbrennen, Meniskus, Hüftabnützung. Hätten unsere Vorfahren nicht entschieden, den Kopf höher zu tragen, wären uns viele Zivilisationskrankheiten erspart geblieben …“ (Seite 110) „Der Mensch ist eine Fehlkonstruktion – zu enger Gebärkanal, Haltungsschäden, schlechte Zähne. Selbst der ärgste Dilettant hätte das besser hinbekommen als Gott.“ (Seite 180)

In den einzelnen Abschnitten wird immer wieder Bezug auf das Weltgeschehen genommen. Etwa der Ermordung Kennedys, das Ende der Beatles, Jimi Hendrix Tod und dass 1978 ein Pole Papst wurde und in Persien Muslime die Regierung übernahmen. Einsteins Leben ist in diesem Roman nur Hintergrundmusik. Durch den Kontakt des Pathologen mit Verwandten Einsteins und durch Gespräche mit dem Hirn werden nur einzelne Lebensabschnitte beschrieben.

Als Autor ist Franzobel auch selbstkritisch, wenn er meint Theater ist „etwas für Leute, die zu faul zum Lesen sind, lauter Stoffe, die zu schlecht sind für Verfilmungen.“ (Seite 457)

Thomas Harvey wurde 85 Jahre alt und verbrachte beinahe sein halbes Leben mit Hirn. Er hatte seine Ehen, seine Kinder, seine Freundschaften, alles dem Hirn untergeordnet. Der Dichter Franzobel widmete ihm mit diesem Buch ein Denkmal.