Marlene STREERUWITZ: Jessica, 30.#
Marlene STREERUWITZ: Jessica, 30. / Roman, Fischer, 2010 / Rezension von Guenther Johann
STREERUWITZ, Marlene: „Jessica,30“, Frankfurt 2010
Das Buch hat drei Kapitel. Jedes Kapitel hat nur einen Satz. Einen unendlichen Satz. Beim Lesen kann man nur schwer Luftholen. Normal holt man beim Punkt – auch wenn man leise liest – Luft. Das fehlt hier. Man wird atemlos. Auch in der Beschreibung im Buchdeckel heißt es „In drei atemlosen Kapiteln folgen wir dem Gedankenmonopol einer jungen Frau“.
Heute kann man solche Texte im Labor schon von einem Computer schreiben lassen. Er liest die Gedanken eines Menschen und schreibt sie nieder. So ungefähr ist auch dieses Buch geschrieben. Alles was sich die Proponentin denkt und sieht wird zu Worten. Eine Modeerscheinung? Auch von Erika Pluhar gab es so ein „Ein-Satz-Buch“. Ich glaube bald wird das nicht mehr modern, sondern algorithmisch sein. Von einem Rechner geschrieben. Nur Dialoge – primär zwischen Jessica und ihrem Liebhaber, einem Politiker – verlassen diesen Schreibstil.
Die Hauptperson des vorliegenden Romans ist die 30-jährige Jessica. Sie ist eine junge und intelligente Frau. Mit einem Doktoratsstudium und einem Amerikaaufenthalt hinter sich. Sie jobbt in einer Zeitschrift als Freiberufliche. Daneben hat sie ein Verhältnis mit einem verheirateten Politiker. Diese Beziehung muss daher heimlich geführt werden, was es seelisch nicht so einfach macht. Der Liebhaber ist ein Politiker. Er verbringt Abende mit Jessica. Er kommt aus einer konservativen Partei und hält politisch das Familienbild hoch. Selbst geht er fremd. Jessica kommt auch hinter andere Beziehungen. Sie trennt sich von ihm. Sie fühlt sich von ihm ausgenützt und will sich revanchieren. Sie will ihn öffentlich zum Abdanken als Politiker bringen. Die Autorin verwendet dazu Fakten, die nicht der Realität entsprechen.
Dass sich Schriftsteller politisch engagieren ist legitim und wichtig. Hier wurden aber Grenzen überschritten. Selbst einem politischen Gegner sollte man ein Minimum an menschlicher Würde belassen und nicht, wie von Streeruwitz die langjährige Bildungsministerin definiert wird als „primitiv, dass sie alles übernehmen kann, die ebnet jedes Fachgebiet zu einem Volkslied ein, eine Wölfin im Lodenjanker ist die, wo nehmen diese Menschen alle ihre Berechtigung her, diese Frau, die ist dumm und ungebildet, eine sadistische Volksschullehrerin halt, und die hat keine Sekunde das Gefühl, dass sie der Aufgabe vielleicht nicht gewachsen ist …“ (Seite 185) Ich will hier nicht Partei für eine ehemalige Politikerin ergreifen, ABER hier wurde – so wie bei anderen Passagen – die rote Linie überschritten. Auch dass politische Ereignisse direkt angesprochen werden und teilweise auch erfunden und unterstellt sind, geben dem Roman ein Ablaufdatum. Einen Politiker anpatzen hat nur Wirkung, solange dieser aktiv ist. Die Autorin beschreibt negative Moral und benimmt sich selbst gegenüber lebenden und im Roman handelnden Personen unmoralisch. Sie nennt es „Umverteilung“: „imgrund mache ich doch nur eine Art Umverteilung von Moral, ich verschiebe Moral dahin, wo es sie nicht genug gibt.“ (Seite 243) Leider hat sie vergessen auch etwas von dieser Moral sich selbst zuzuschieben. Es werden aber nicht nur Politiker angegriffen, sondern auch Institutionen wie die Kirche. „aber das ist ja das Interessante, das ganze Katholische hat dieses Land mit keinem Moralkompass ausgestattet, das ganze Katholische ist nur in eine diffuse Hegemonialität aufgegangen, wer Recht hat, das ist klar, was richtig ist, das ist diesem Recht unterworfen, und dann ist das Puff auch nicht falsch, wenn es die richtigen Betreten haben..“ (Seite 228). Sie behauptet weiter, dass Politiker für Freudenhausbesuche Partei- und Steuermittel verwenden. Ja selbst den Besuch eines Bischofs im Puff stellt sie als Behauptung auf. Selbst jenem Bombenattentäter, der Roma ermordet hat unterstellt sie, dass er dies im Auftrag der österreichischen Volkspartei gemacht habe.
Und Sex muss immer dabei sein. Vielleicht erhoffte sich die Autorin mit diesen Passagen mehr Leser? Vor allem die Männer kommen bei diesen Szenen nicht gut weg und sind die Erpresser und diejenigen, die Vorteile und Genuss haben. Da muss man schon viele negative Erfahrungen haben, um so zu denken. Sie gesteht es auch selbst ein, wenn sie sagt „da kann man über Männer nicht mehr freundlich denken, da kriegt man schon einen Hau auf die aggressivere Seite.“ (Seite 250)
Frust zieht sich durch das ganze Buch. Auch Jessica ist mit ihrem Leben unzufrieden, aber die Schuld liegt immer bei den Anderen. Etwa, dass sie keine Fixanstellung in dem Zeitschriftenverlag bekommt, für den sie als freiberufliche Autorin schreibt. Sie meint, sie habe der Chefin des Verlags alle Ideen („die hat mir 1.000 Ideen geklaut“ – Seite 193) für ihre Zeitschrift gegeben. Selbst wurde sie dafür nicht belohnt. Sie fühlt sich als die bessere und nicht erkannte Journalistin. Über ihre Chefin sagt sie: „aber investigativen Journalismus, den kann sie sowieso nicht brauchen, das Spannendste, was sie in ihrem Blatt da bringen kann, ist wenn sich in einer Chanel-Boutique ein Versace-Gürtel findet, das ist das Spannendste, was sie sich vorstellen kann (Seite 211)
Das Buch ist sehr schwer zu lesen. Es ist, als wären alle Gedankenflüsse der Proponentin in Worten von einem Rekorder aufgezeichnet und wir Leser müssen das lesen. Die wichtigen und unwichtigen Dinge. Viel Müll und sehr viele Behauptungen, mit denen Menschen verletzt werden. Wenn das das Ziel und die Aufgabe der österreichischen Literatur ist, dann schaut es nicht gut aus für unser Land. Es ist schade, dass eine so begabte Schriftstellerin sich auf solch niedriges Niveau begibt. In vorangegangenen Romanen – wie „Verführungen“ – hat sie sich ganz anders präsentiert.