René FREUND: Mein Vater, der Deserteur#
René FREUND: Mein Vater, der Deserteur / Eine Familiengeschichte, Deuticke, 2014 / Rezension von Guenther Johann
FREUND, René: „Mein Vater, ein Deserteur. Eine Familiengeschichte“, Wien 2014
Der Autor arbeitet die Kriegsvergangenheit seines Vaters auf. Er fand ein Tagebuch mit Aufzeichnung der Militärzeit des Vaters. Zusätzlich fuhr er mit seiner Familie nach Frankreich, um die Wege seines Vaters nachzuzeichnen. Die Welt war aber eine andere geworden. Freund stellt die Zeit des Zweiten Weltkriegs der heutigen, des 21. Jahrhunderts, gegenüber. Es ist interessant, dass erst die nachfolgenden Generationen das Problem aufarbeiten. „Wir Kinder der Kriegskinder sind die Ersten, die nicht direkt durch den Krieg traumatisiert wurden. Unsere Eltern oder Großeltern haben viel Schreckliches verdrängt, mit Wiederaufbau und Wirtschaftswunder übertönt, doch sie sind alle im Krieg hängengeblieben. Natürlich mit unterschiedlicher Intensität. Sie wollten untereinander nicht über das Erlebte sprechen, und mit ihren Kindern auch nicht. Darum kommt von ihnen – seit Jahrzehnten! – der Ruf nach dem Schlussstrich. Sie wollen von der Vergangenheit endlich nicht mehr behelligt werde. Doch wir Kinder und Enkelkinder und Urenkelkinder sind neugierig. Wir wollen verstehen. Wir stellen Fragen.“ (Seite 201)
Für jene Leser, die den Krieg (Gott sei Dank) nicht erlebt hatten, werden nochmals Fakten wiederholt, aus denen man die Tragweite des Geschehens ersehen kann. Etwa die Landung der Invasionstruppen in der Normandie mit 6000 Schiffen, 12000 Flugzeugen und 170.000 Soldaten. An manchen Abschnitten sind beim Landen 70 Prozent der Angreifer gefallen. 70.000 französische Zivilisten starben durch alliierte Truppen. „Der Preis der Freiheit war hoch.“ Der amerikanische Präsident meinte gegenüber Churchill „Wie bedauerlich zu erwartende Verluste unter den Zivilisten auch sein mögen, so bin ich nicht bereit, dem militärischen Handeln der verantwortlichen Kommandeure aus der Ferne irgendwelche Zügel anzulegen, die aus deren Sicht die Erfolge von „Overlord“ schmälern oder zusätzliche Verluste unter unseren alliierten Invasionstruppen verursachen könnten.“ (Seite 77) Diesen enormen logistischen Aufwand der Alliierten bei der Stürmung Europas stellt der Autor dem Austausch einer Küche gegenüber. Wie viele Dinge man da berücksichtigen muss und wie klein ist diese Administration im Vergleich zur Erstürmung Europas. „Seit ich mich auf die Spuren meines Vaters begeben habe, seit ich mir so richtig bewusst geworden bin, um welchen Preis unsere Freiheit erkauft wurde, macht mich die Art und Weise, wie wir mit dieser Freiheit umgehen, noch wütender.“ (Seite 198)
Freund setzt sich auch mit der Definition „Deserteur“ auseinander. War sein Vater ein Held? Fühlte er sich als Deserteur? 15.000 Deserteure wurden von der deutschen Wehrmacht getötet. Hatte der damals 19-jährige Vater Angst? Fragen, die man aus heutiger Sicht nicht mehr beantworten kann. Da dieses Buch eine Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte ist, werden viele Dinge auch besser verständlich. Am Klassenfoto des Vaters wurden über vielen Mitschülern schwarze Kreuze gezeichnet. Schwarze Kreuze für jene Mitschüler, die im Krieg gefallen sind. Gefallen unmittelbar nach dem Schulabschluss.
Während der Vater im Krieg war, ist dessen Vater gestorben und seine Mutter zog sich mit den Kindern aufs Land zurück. In der Stadt zu leben war durch die vielen Luftangriffe zu gefährlich geworden. Im Luftschutzkeller hatte sie den Kindern als Ersatz von Helmen Kochtöpfe aufgesetzt. René Freund setzt sich sehr gut mit der Vergangenheit unserer Väter und unserer Zeit auseinander. Er gewichtet und setzt Handlungen in die Situation der jeweiligen Periode. „Wir sind wahnsinnig gut darin, das Verhalten der Menschen „damals“ mit unseren moralischen Kriterien von heute zu beurteilen. Und natürlich aus der Sicherheit von heute. Mutig ist das nicht gerade. …. Die Frage „Wie hätte ich mich damals verhalten?“ führt direkt zu der für uns viel wichtigeren Frage: Wie verhalte ich mich heute?“ (Seite 199)
Der Vater kam in amerikanische Kriegsgefangenschaft, was ihm wahrscheinlich eine Exekution ersparte. Dort trat er schon als Schauspieler auf, denn das wollte er werden und als er wieder zu Hause war bekam er diese Ausbildung. Karriere machte er aber indirekt: als Direktor des österreichischen Fernsehens und später in der Filmbranche.