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Stefan Lorenz SORGNER, Philipp von Becker: Transhumanismus#

Stefan Lorenz SORGNER, Philipp von Becker: Transhumanismus / Streitfrage, Wested, 2023 / Rezension von GUENTHER Johann

Stefan Lorenz SORGNER, Philipp von Becker: Transhumanismus
Stefan Lorenz SORGNER, Philipp von Becker: Transhumanismus

SORGNER, Stefan Lorenz; BECKER, Philipp von: „Transhumanismus“, Frankfurt 2023 Die Herausgeberin der „Streitfrage“ Lea Mara Eßer stellt im vorliegenden Buch die beiden Kontrahenten , den Philosophen Sorgner und den Publizisten Becker zum Thema „Transhumanismus“ gegenüber. Streitgespräch. An Streit mangelt es in der heutigen Zeit nicht. Menschen werden in verschiedene Lager eingeteilt, Kontrahenten stehen sich in Arenen gegenüber. Meinungsverschiedenheiten sind für Gesellschaften zwar wichtig und fruchtbar, aber sie verkommen heute oft zu einem Wettkampfspektakel. Das vorliegende Buch will dem entgegenwirken. Es geht hier nicht um Angriff und Verteidigung, sondern um die Darstellung zweier Standpunkte zu einem Thema, zum Transhumanismus. So wurden die beiden Buchbeiträge unabhängig voneinander verfasst. Keiner der beiden Autoren wusste, was der andere schreiben wird. Die Standpunkte stehen also als Standpunkte und bedurften keiner Verteidigung. Dies macht es dem Leser möglich klarere Positionen zu erkennen. Stefan Lorenz Sorgner, Philosophieprofessor an der John Cabot University in Rom, schrieb den PRO-Teil des Buches. Gleich in der Überschrift seines Artikels drückt er den positiven Zugang aus: „Transhumanismus bedeutet Freiheit“. In seiner Einleitung holt er weit aus und geht 14 Milliarden Jahre, bis zum Urknall, zurück. Die Erde formte sich vor 4,5 Milliarden Jahren und nach einer weiteren Milliarde Jahren entstand die Menschheit. Aus unbelebter Materie entstanden Lebewesen. Er zieht daher die Schlussfolgerung, dass auch auf Siliziumbasis Leben entstehen kann. Den Menschen per se machte erst die Sprache aus und mit ihr wurden wir Menschen „vernunftfähige Cyborgs“. Der Homo Sapiens besteht aus Materie und Unmaterialem. Transhumanismus als errungene Freiheit: Der Mensch ist ein Wesen, das sich ständig neu erfinden und modifizieren kann, was nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Gesellschaft eine Verbesserung bringt. Der Mensch ist demnach ein evolutionäres Wesen. Die Frage, ob es in 300.000 Jahren noch Menschen geben wird, beantwortet der Autor, „dass Menschen in 300.000 Jahren entweder ausgestorben sein oder sich weiterentwickelt haben werden. Mit dem Voranschreiten neuer technischer Möglichkeiten haben wir die Option, immer stärker in die Evolution einzugreifen.“ (Seite 16) Da der Mensch aus mehr nichtmenschlichen (39 Billionen) als menschlichen (30 Billionen) Zellen besteht, ist nicht auszuschließen, dass auch die digitale Welt immer stärker integriert wird. Das Smartphone als eine körperliche Integrität. Wir sind, so der Autor, „sich ständig in Veränderung befindliche Entitäten, die sowohl nicht-menschliche als auch menschliche Zellen umfassen. Wir sind in diesem Sinne hybride, sprachfähige und sich ständig in jedem Bezug verändernde Cyborgs mit der Fähigkeit, uns selbst upzugraden.“ (Seite 19) Morphologische Freiheit: Mit der morphologischen Freiheit des Transhumanismus hat der Mensch das Recht, sich ständig nach eigenen Vorstellungen umformen zu dürfen. Mit Neuroenhancement können wir Schlaf, Konzentration, innere Ruhe und Aufmerksamkeit beeinflussen. Schon heute hat jeder vierte Student in den USA auf derartige Substanzen Zugriff. Es sind nur temporäre Veränderungen, die man etwa mit LSD erzielt. Langfristiger gibt diese Freiheit auch das Recht, das eigene Geschlecht zu verändern. Erziehungsfreiheit: Sie bezieht sich primär auf die Beziehung zwischen Eltern und ihrem Nachwuchs. Dass unter Erziehung Lesen, Schreiben und Rechnen fällt ist eines. Die Erziehung zu einem „gelungenen Leben“ ist ein anderer Faktor, der auch mit Gesundheit zu tun hat. Der Transhumanismus bezieht hier Gentechnik mit ein, die eine verlängerte Gesundheitsspanne erlaubt. Reproduktionsfreiheit: Transhumanismus sieht es als Freiheit, dass Sexualität von Reproduktion getrennt wird. Das bedeutet eine Abkehr von der aristotelischen Tradition. Sex wird zur Unterhaltung und Reproduktion ist eine technische Angelegenheit. Schwangerschaft wird in Zukunft in einer externen Gebärmutter abgewickelt, was vieles in der Gesellschaft verändern wird. Frauen mit Frauen, mehrere Frauen mit einem Mann, Männer mit Männern – so können neue Familien organisiert sein. Dass auch Männer Kinder bekommen, ist ein Schritt in Richtung Geschlechtergerechtigkeit. Keine Freiheit ohne Gesundheit: Transhumanismus beschränkt sich nicht auf Abwesenheit von Zwang. Eine verlängerte Gesundheitsspanne fördert die personelle Lebensqualität. Leben um des Lebens willen ist keine notwendige Erfüllung. Im Bett liegend und keinen Aktivitäten nachgehen zu können oder gar in einem Krankenhaus an Maschinen angeschlossen zu sein ist keine lebenswerte Lebensverlängerung. Technische und medizintechnische Errungenschaften der letzten 200 Jahre, haben die Lebenserwartung verdoppelt und in Deutschland in den letzten 50 Jahren um 15 Jahre erhöht. In diesem Zusammenhang sind die Verwendung und der Zugriff auf persönliche Daten ausschlaggebend. Das unterscheidet Europa mit striktem Datenschutz von den USA und China grundlegend. Die rechtliche Verpflichtung Daten öffentlich zur Verfügung zu stellen, wird China einen wirtschaftlichen Erfolg bringen, wie ihn andere Regionen (Europa) nicht erreichen werden könne. Um Inzest auszuschließen, müssen etwa in Saudi-Arabien seit 2004 vor der Eheschließung Gentests der Behörde vorgelegt werden. Keine Freiheit ohne globale soziale Absicherung: Freiheit bedeutet auch eine gewisse soziale Absicherung. In den letzten 200 Jahren wurde die absolute Armutsrate radikal reduziert. Das basiert auf einem erweiterten Technikverständnis, wobei auch Bildung als Technik verstanden wird. Bildungspflicht unterscheidet sich von Schulpflicht. Bildungspflicht kann auch individuell, wie mit Homeschooling, erfüllt werden. Je höher der Bildungsstand eines Landes ist, umso niedriger ist die Fortpflanzungsrate. In Deutschland, Österreich oder Italien etwa unter 1,5. Die Vereinten Nationen veröffentlichten eine Studie, nach der der „12 Milliardste Mensch nie geboren werden wird, wenn Hygiene, Bildung und Zugang zur Krankenversorgung weiterhin so gefördert werden wie bisher. … Eine Förderung der Techniken erhöht die weltweite Lebensqualität, mit der wiederum ein Rückgang der Reproduktionsrate einher geht.“ (Seite 48) Das wiederum hat Auswirkungen auf den Klimawandel, weil weniger Menschen den Globus belasten. Conclusio: „Alle, die eine skeptische, eine naturalistische, eine diesseitige, eine nicht dualistische oder eine pluralistische Grundhaltung teilen, sollten sich dem Transhumanismus zuwenden. … Alle, die die sozial-liberale Version von Demokratie schätzen und für eine wunderbare Errungenschaft halten, die es auszubauen lohnt, sollten den Transhumanismus umarmen und sich daran beteiligen.“ (Seite 51) Ein wichtiges Ziel des Transhumanismus ist die Verlängerung der Gesundheitsspanne. Mit neuen Technologien kann der Klimawandel bekämpft werden. Der Autor schießt optimistisch und enthusiastisch mit „Ich kann die Realisierung unserer posthumanen Zukunft daher kaum erwarten.“ (Seite 54) Philipp von Becker ist Filmemacher, Autor und Publizist in Berlin. Mit der technischen Transformation des Menschen befasste er sich in seinem Buch „Der neue Glaube an die Unsterblichkeit. Transhumanismus, Biotechnik und digitaler Kapitalismus“. Er ist der Kontrahent zum Thema „Transhumanismus“, der Schreiber des CONTRA. Da es sich in diesem Buch nicht um eine Diskussion, einen Diskurs handelt, sondern in ein paralleles Schreiben der beiden Standpunkte des DAFÜR und DAGEGEN, kommt es im Kapitel des „Gegners“ zu einer Verteidigung des Bestehenden. Im Gegensatz dazu der Verfechter des PRO, der in die Zukunft schauen kann und nichts zu verteidigen hat. So wird wiederholt, dass der Transhumanismus, den von Natur aus defizitär geschaffenen Menschen mit Hilfe von Technologie anpassungsfähiger machen soll. Er soll optimiert, superintelligent die menschlichen Fähigkeiten steigern. Dies passiere – so Becker – auf einer reduktionistischen, szientistisch-technokratischen Sicht auf den Menschen und die Gesellschaft. Die Transformierung solle in drei Feldern passieren: - biotechnische Eingriffe - gentechnische Eingriffe - Verschmelzung von Mensch und Maschine (Implantate, Prothese, Computerschnittstellen) Der Eingriff ins Erbgut eines Menschen kann zwar zur Vermeidung vererbbarer Krankheiten führen, aber weiterreichende gentechnische Veränderungen werfen ethische, soziale und politische Fragen auf, die zu einer fundamentalen Veränderung des Menschseins führen würden. Den Menschen und die Welt vollständig zu berechnen, würde den Menschen zu einem reinen Instrument machen. Die derzeitige Vorgangsweise in China nimmt der Autor zum Beispiel und prognostiziert, dass dort Bürger und Soldaten genetisch aufgerüstet werden und so das Land in eine Weltführerschaft bringt. Wie ein Mensch ausgestattet ist, würde vor seiner Geburt definiert werden. Kinder könnten nachher gegen ihre Eltern prozessiere, weil sie bestimmte Vorkehrungen nicht getroffen haben. Politisch hätten in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern schon meritokratische und neoliberale Ideologien überhandgenommen. Ursache von Krankheit und Ungleichheit könne technisch behoben werden. Um möglichst viel im Leben zu erleben, stünde der Mensch unter einem Dauerstress. Er leide unter der Angst nicht genug Zeit für seine persönliche To Do Liste zur Verfügung zu haben. Facebook kann schon heute bei 300 Likes besser die politische Meinung einer Person vorhersagen als der Lebenspartner. Der Vorwurf, dass nicht der Mensch intelligenter wird, sondern die künstliche Intelligenz wird ins Treffen geführt. Algorithmen könnten den Wähler und den entscheidenden Konsumenten ersetzen. Der Rückgang der Religionen wird mit dem Aufkommen eines neuen Gottes, des Dataismus begründet. Da der Mensch maschinengesteuert nicht mehr gegen Verbote verstoßen kann, fühlt er sich von Gottes Gesetzen befreit. Die Frage „Wer entscheidet in einer Welt totaler Computerisierung?“ führt zu mehr Macht der Führenden, jener, die die Systeme und Algorithmen beherrschen und verwalten. Die digitale Diktatur Chinas wird als Blaupause für andere Länder gesehen. In einer maschinengesteuerten Welt würden die Menschen verlernen selbst zu denken, zu entscheiden und könnten nicht mehr selbst moralisch handeln. Dieses neue Format des Westend Verlags ist zu begrüßen. Es lässt zwei unterschiedliche Meinungen nebeneinanderstehen. Das erlaubt dem Leser und Interessierten des Themas ein besseres Abwägen der Vor- und Nachteile.