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Die Ruhe - aber wovor?#

In Österreich und Deutschland ist es gelungen, das Infektionsgeschehen extrem zu reduzieren. Aber bleibt das? Gesundheitsminister Rudolf Anschober blickte mit dem Virologen Christian Drosten zurück und nach vorne.#


Von der Wiener Zeitung (18. Juni 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Simon Rosner


Rudolf Anschober und Virologe Christian Drosten.
Rudolf Anschober und Virologe Christian Drosten.
Foto: © apa

Drei Monate ist es her, da ging Österreich in den Lockdown. Rund 1000 Personen hatten damals nachweislich das neuartige Coronavirus. Von rund 8,9 Millionen Einwohnern. Das anfängliche Unverständnis darüber bei vielen wich sehr schnell, binnen Tagen, einer kollektiven Sorge vor einer unkontrollierbaren Situation mit hohen Todeszahlen. Einige Wochen später konnten vielen wiederum die Öffnungsschritte nicht schnell genug gehen, die Angst wich einer Ungeduld. Und wer heute mit Maske ein Geschäft betrifft, wird mitunter freundlich darauf hingewiesen, dass man dies nicht mehr tun müsse.

In dieser außergewöhnlichen Zeit dreht auch die Stimmung außergewöhnlich rasch. Zu rasch, wie Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) findet. "Es entsteht der Eindruck, dass die Geschichte abgehakt, die Pandemie vorbei ist. Das wäre die gefährlichste Fehleinschätzung überhaupt", sagte Anschober, der am Freitag zu "Rückschau und Ausblick" lud. Auch der Virologe Christian Drosten von der Berliner Charité war per Internet zugeschaltet.

Drosten zeigte sich grundsätzlich ebenso optimistisch, dass es durch das gegenwärtig geringe Infektionsgeschehen gelingen wird, gut in Richtung Herbst zu kommen. "Wir sollten die Achtung vor dem Virus aber nicht verlieren", sagte Drosten. "Wir können eine zweite Welle verhindern. Wir können sie aber auch erleben, wenn wir nichts dagegen tun."

Zwei Monate ist es her, dass in Österreich an einem Tag mehr als 100 Neuinfektionen registriert wurden. Seither bewegt sich die Inzidenz auf niedrigem Niveau, zwei bis drei Dutzend Ansteckungen sind es pro Tag. In Berlin ist die Situation ähnlich, allerdings wurde am Montag bekannt, dass es in einem einzigen Wohnhaus in Neukölln zu einem Massenausbruch mit mehr als 70 Infizierten kam. Das ist das Tückische des Virus.

Der Virologe Drosten hat im Jänner den ersten Test auf Sars-CoV-2 entwickelt, er ist seit Jahren auf Coronaviren spezialisiert. In einem millionenfach gehörten Wissenschafts-Podcast des NDR, gewissermaßen einer Radiosendung im Internet, spricht Drosten über neue Erkenntnisse der Wissenschaft, gibt aber auch Einschätzungen über Maßnahmen ab. Sie sind meist von Vorsicht geprägt. So ist auch Drostens Aussage im Rahmen der Pressekonferenz zu verstehen, dass es gegenwärtig unterhalb der Detektionsschwelle zu einer eben nicht wahrnehmbaren Ausbreitung kommen könnte. Er wolle das nicht ausschließen, sagte Drosten. "Wir wissen einfach nicht, was im Hintergrund geschieht."

Der Faktor Zufall spielt mit#

Eine relativ neue Erkenntnis ist, dass eine Charakteristik des neuen Coronavirus die sogenannte Überdispersion ist. Das heißt, dass die Ansteckungen sehr unterschiedlich verteilt sind. Die meisten Infizierten geben das Virus gar nicht weiter oder nur an eine einzige Person, einige wenige Virusträger stecken jedoch sehr viele an. Diese Streuung gibt es bei der Grippe nicht. Warum das so ist, ist noch nicht hinlänglich erforscht.

Eine Folge davon ist, dass sich das Virus bei sehr niedriger Inzidenz gut beherrschen lässt, wie auch das nun schon wochenlang geringe Infektionsgeschehen beweist. Es ist aber eben kein Selbstläufer. Und es kann Pech dazu kommen, wenn ein Superspreader in Kontakt zu sehr vielen Menschen kommt. Das ist die Kehrseite der Überdispersion, den Faktor Zufall darf man nicht unterschätzen.

Die Demonstration in Wien mit 50.000 Teilnehmern vor zwei Wochen hatte beispielsweise (bisher) gar keinen Anstieg der Infektionszahlen zur Folge. "Bei Niedriginzidenz kann so etwas auch mal gut gehen", sagte Drosten. Es muss aber eben nicht gut gehen, weshalb auch weiterhin Maßnahmen in Kraft bleiben, die Superspreading verhindern sollen. Das heißt etwa auch, dass es noch länger keine vollen Bars geben wird, keine Diskos, enge Konzerte, Chorveranstaltungen und dergleichen. Allgemein gilt: viele Menschen in Innenräumen, die miteinander kommunizieren, das ist die Situation, die es zu vermeiden gilt. Und wenn schon, dann mit Mund-Nasen-Schutz.

Verlaufskurve
Grafik/Quelle: Bundesministerium für Soziales, Gesundheit, Pflege und Konsumentenschutz, WZ-Bearbeitung

Es gibt eine bedeutende Ausnahme, und das ist die Schule. Drosten hat selbst vor einigen Wochen eine Studie über die Viruskonzentration bei Kindern präsentiert, die nur geringe Hinweise darauf fand, dass Kinder weniger infektiös sein könnten. Welche Rolle Kinder im epidemischen Geschehen aber tatsächlich spielen, ist nicht abschließend geklärt. Gesichert ist nur, dass Kinder seltener wirklich erkranken, darüber hinaus ist die Bandbreite des Möglichen groß.

Umstrittene Frage der Schulöffnungen#

Die Frage von Schulöffnungen war in allen Ländern umstritten, sie stellt sich aber künftig nicht mehr, denn die sozialen Nebenkosten sind dafür zu hoch. Das ist auch Anschober bewusst. Wenn, wird es nur partielle, kurze Schließungen geben, wie etwa auch bei Masern-Ausbrüchen. Auch Drosten sagte, dass es darum ginge, wie man mit der potenziellen Spreadinggefahr umgehe.

Im Gesundheitsministerium arbeitet man derzeit an einer neuen Teststrategie, die sich auch dieser Frage annehmen wird. Sie soll Anfang Juli stehen, helfen könnten auch neue Testverfahren, doch die sind erst in Entwicklung. In der neuen Teststrategie will man sich auch verstärkt jenen Gruppen zuwenden, die sich, aus unterschiedlichen Gründen, nicht bei den Behörden bei Symptomen melden. Das dürfte auch in dem Wohnhaus in Berlin der Fall gewesen sein, es handelt sich laut Berliner Medien um ein Armenquartier.

Vorbereitungen für den Herbst#

Zudem wird auch überlegt, wie man die Rückverfolgung der Infektionsketten effektiver gestalten kann. Bisher sind für die Kontaktermittlungen der Erkrankten die lokalen Gesundheitsbehörden zuständig, die aber personell rasch an der Kapazitätsgrenze angelangt sind. Wenn diese erreicht ist, können potenziell Infizierte nicht mehr aufgespürt werden. Dann wird es gefährlich.

Die Hoffnung ist, dass im Sommer das Infektionsgeschehen weiter gering bleibt und die Behörden Zeit bekommen, sich auf den Herbst vorzubereiten. Wenn sich das öffentliche Leben witterungsbedingt wieder stärker nach drinnen verlagert, steigt auch die Epidemiegefahr wieder. Davon ist jedenfalls auszugehen. Bei der Regierungsklausur wurden für den Fall der Fälle "zusätzliche Sicherungsmaßnahmen" beschlossen. Welche das sein könnten, wurde noch nicht besprochen. Ein zweiter Lockdown ist keine Option mehr, sagt Anschober. Freilich, eine Erkenntnis der Corona-Krise ist auch: In wenigen Wochen kann alles ganz anders sein.

Wiener Zeitung, 18. Juni 2020