Forscher wollen Herdenimmunität testen#
Mediziner informieren: Ohne Herdenimmunität ist das Coronavirus nicht auszubremsen, doch sie muss langsam stattfinden.#
Von der Wiener Zeitung (26. März 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
Von
Eva Stanzl
Möglichst viele Tests sind nötig, um das Ausmaß der Coronavirus-Pandemie abschätzen zu können. Dadurch können Patienten rasch behandelt und kann das Ansteckungsrisiko verringert werden. Im weiteren Verlauf dürfte es aber besonders wichtig werden, zu erfahren, wer die Krankheit überstanden hat und somit immun gegen eine Neuansteckung geworden ist. Solche Personen könnten vielleicht früher an ihre Arbeitsplätze zurückkehren (die „Wiener Zeitung“ berichtete) und das Haus wieder verlassen. Ohne Herdenimmunität ist das Coronavirus nicht auszubremsen, informieren Mediziner. Die wichtige Herausforderung ist dabei, dass es nicht zu einer ungebremsten und zu schnellen Durchseuchung kommt und dass diejenigen geschützt werden, die sehr schwer erkranken können.
Berechnungen zufolge müssen 60 Prozent der Bevölkerung Covid-19 überstanden haben und immun gegen das Virus geworden sein, damit es nicht zu einer kontinuierlichen Ausbreitung mit immer wiederkehrenden Epidemien kommt. Noch gibt es aber keinen einsatzreifen Test auf die langfristig wirksamen Antikörper von geheilten Covid-19-Patienten. Weltweit wird daran gearbeitet – auch in Wien.
„Äpfel mit Birnen vergleichen“#
Forscher des Zentrums für Virologie der Medizinuniversität Wien entwickeln hochqualitative Antikörper-Testsysteme gegen Viruserkrankungen. Bei einem Kontakt mit dem Erreger bildet der Körper Immunglobulin G und Immunglobulin M. Die derzeit von der Bundesregierung angekündigten Schnelltests können unter anderem diesen Kontakt nachweisen. „Um aber einen dauerhaften Schutz feststellen zu können, müssen jene Virus-spezifischen Antikörper im Test aufscheinen, die den Erreger neutralisieren. Nur eine bestimmte Gruppierung von Antikörpern ist dazu befähigt, ein Virus so zu blockieren, dass es nicht mehr in die Zelle eindringen kann“, sagt Ursula Wiedermann-Schmidt, Direktorin des Zentrums für Pathophysiologie, Infektiologie und Immunologie der Medizinuniversität Wien. „Danach richtet man dann die Serologie aus, mit der man sagen kann, ob jemand eine schützende Immunantwort entwickelt hat.“
Derzeit werden in Österreich Personen mit Symptomen von Covid-19 mit PCR-Tests überprüft. Das Kürzel steht für Polymerase-Kettenreaktion, mit der sich Erbsubstanz vervielfältigen lässt, wodurch die Erbsubstanz von Sars-CoV-2 sichtbar wird. Der PCR-Test lässt sich mittlerweile in automatischen Testreihen durchführen, was das Verfahren beschleunigt. Die Bundesregierung hat neue Schnelltests für rund 15.000 Personen täglich angekündigt. Es gibt diverse Formen: solche, die Erreger nachweisen, und solche, die gegen den Kontakt der Antikörper zum Virus aufspüren.
„Der Ruf nach mehr Tests ist verständlich und alle sind sich bewusst, dass Handlungsschritte notwendig sind. Aber man muss fragen, welche Schritte sinnvoll sind“, hebt Wiedermann-Schmidt hervor. „Wenn man flächendeckend auf Erreger-Positivität testen will, müsste man das täglich an jeder Person in diesem Land tun, denn nur weil jemand an einem Tag noch nicht erkrankt ist, heißt das nicht, dass er am nächsten Tag nicht Virus-positiv ist.“ Ein solches Vorgehen sei für die ganze Bevölkerung unmöglich, würde aber derzeit im Gesundheitsbereich Sinn machen. Die Sensitivität der Schnelltests und die Konsequenzen solcher Testungen seien allerdings unklar. Zudem könnte ein unkoordiniertes Testen die derzeitigen Maßnahmen konterkarieren, erklärt die Immunologin.
„In der Bevölkerung ist die Erhebung der erworbenen Immunität sinnvoll. Aber auch diese Testung muss strukturiert und koordiniert ablaufen mit Testverfahren, die qualitativ vergleichbar sind.“ Aus vielen falsch negativen oder falsch positiven Resultaten könnten falsche Konsequenzen gezogen werden, was zu einer Verschlechterung der jetzigen Situation führen könne. „Kreuz und quer Schnelltests zum Einsatz zu bringen, wäre nicht wissenschaftlich mit der Epidemiologie gedeckt. Die Vermischung von Testsystemen ist so, als würde man Äpfel mit Birnen vergleichen“, sagt Wiedermann-Schmidt: „Man sollte vom Pfad der Evidenz und koordinierten Testung nicht abweichen.“ Für „sehr wohl sinnvoll und notwendig“ hält sie es, Gruppen von genesenen Personen in Immunität zu testen. „Am Beginn der Pandemie kann eine infizierte Person im Schnitt drei weitere anstecken, und jeder von diesen weitere drei. Bei einer ungezügelten Verbreitung kommt es so zu einem exponentiellen Wachstum in sehr rascher Zeit.“ Die gleichzeitige Versorgung von schwer Erkrankten könne kein Gesundheitssystem bewältigen.
Das Ziel ist lineares Wachstum#
Das Ziel ist ein lineares Wachstum durch Kontaktsperren und zunehmenden Erwerb von Immunität. Österreich sei mit seiner derzeitigen Wachstumsrate von 20 Prozent „auf einem guten Kurs“. In Abhängigkeit vom Grad der Immunität in einer Bevölkerung könne man entscheiden, die restriktiven Maßnahmen schrittweise zu lockern. „Möglicherweise betrifft dies vorab die Kinder, die unter Umständen bereits sehr leichte Infektionen durchgemacht haben. Zugleich darf das Augenmaß für den kontinuierlichen Schutz der Risikogruppen natürlich nicht verloren gehen“, sagt Wiedermann-Schmidt.
Wie stark der Umgang mit der Krise von den Umständen abhängt, zeigt das Beispiel Island. Aufgrund der geografischen Lage und geringen Bevölkerungszahl darf es sich über Vorteile im Kampf gegen das Coronavirus freuen. Zwar nimmt das isländische Gesundheitswesen Untersuchungen nur bei Personen vor, die Symptome von Covid-19 aufweisen. Daneben können sich die Isländer jedoch freiwillig testen lassen, auch ohne Symptome. Diese Tests erfolgen durch das in Reykjavik ansässige Unternehmen Decode Genetics. Die Daten sollen der Weltgemeinschaft dabei helfen, neue Ansätze zur Eindämmung der Pandemie zu gewinnen.