Heiligung des Banalen #
Leben ohne gemeinsamen Gottesdienst: Was derzeit einzigartig scheint, hat es immer wieder gegeben. Über die Chance, durch die aktuelle Krise neue Formen der Spiritualität zu entdecken. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (26. März 2020)
Von
Andreas G. Weiß
Die Fastenzeit im Jahr 2020 wird in Erinnerung bleiben. Abgesagte Gottesdienste weltweit, Priester, die die Messe alleine oder im Kreis einer ausgewählten Gruppe feiern, der Ausschluss der Gläubigen von allen sakralen Handlungen während der Kar- und Ostertage in Rom – all das wirft ein völlig neues Licht auf das Selbstverständnis kirchlicher Existenz.
Fast ist man geneigt, angesichts der beinahe unwirklichen Bilder von einer „Entzauberung“ zu sprechen: Als selbstverständlich erachtete Liturgien werden eingeschränkt, von der oftmals hochheilig gehaltenen Sonntagspflicht der römischen Kirche wird mit bischöflicher Autorität dispensiert. Damit leidet das für die religiöse Identität zentrale Kulthandeln der katholischen Gemeinschaft, das lebendige Identifizieren mit dem gottesdienstlichen Feiern wird damit zu einem Teil unmöglich. Nach Alternativen wird gesucht: Maßnahmen reichen von einer „Verlegung“ des Geschehens in die digitalen Welten des Internet, in Form von Radio- und Fernsehgottesdiensten bis hin zur privaten Andacht zu Hause oder dem stillen Gebet in Einsamkeit.
Zeiten ohne öffentlichen Kult #
Was geradezu einzigartig klingt, ist bei genauerem Hinsehen jedoch keine einmalige Situation: Geschichtlich gesehen hat es Zeiten, zu denen ein öffentlicher Kultbetrieb nicht möglich war, immer wieder gegeben: In alttestamentlicher Zeit war dies etwa der Fall, als man in der „Babylonischen Gefangenschaft“ (597-538 v. Chr.) fernab der israelischen Heimat leben musste. Jahrhunderte später gab es solche Erfahrungen auch, als der Tempelkult in Jerusalem von mehreren Gruppen abgelehnt wurde. Die Gründe dafür waren vielfältig, oftmals mit politischen Motiven vermischt. Aber in der Forschung weiß man, dass die Opfer im größten Heiligtum selbst in antiken Zeiten nicht immer unhinterfragt waren.
Jene Gruppen, die diese gottesdienstlichen Feiern infolgedessen mieden, waren wiederum auf der Suche, wie sie ihr alltägliches Leben abseits der größeren Zusammenkünfte heiligen konnten. Das Ergebnis dieser Zeit waren etwa pharisäische Gruppierungen, die – mit einer ganzen Bandbreite religiöser Regelungen – versuchten, ihren Alltag ohne Tempelopfer auf Gott hin zu zentrieren. Diese Fokussierung auf Vorschriften hat jenen Gruppen in der späteren Geschichte oftmals den Vorwurf eines legalistischen Religionsverständnisses eingebracht, tatsächlich war es wohl das kreative Ergebnis eines Identitätsprozesses, in dem man nach Möglichkeiten suchte, den Glauben in konkreten Lebenspraktiken zu leben.
Die Heiligung des einfachen Lebens hatte aber auch in der Neuzeit besondere Anreize: Sie führte in zahlreichen angloamerikanischen Gemeinden des 19. Jahrhunderts zu einer Haltung, die heute als „Holiness“-Movement bekannt ist. Mit dem Ziel eines religiösen Lebens abseits großer Inszenierung verbanden sich politische, moralische und spirituelle Aspekte, die zu neuen Keimzellen einer veränderten Lebenspraxis in der Gesellschaft wurden. Nicht selten waren es diese Bewegungen, die ihre Überzeugungen durch ein glaubwürdiges Leben umso deutlicher in die Gesellschaft einbrachten. Nicht unähnlich der heutigen Situation abseits der gängigen Gottesdienstpraxis wurde eine pastorale Kreativität gefordert, ein Blick auf das Leben von Familien und Einzelpersonen, wo Ausformungen christlicher Spiritualität leb- und denkbar wurden.
Dies trifft durchaus auch heute zu: Mit der Unmöglichkeit gemeinsamer Gottesdienstrituale eröffnet sich etwas, das etwa schon Leonardo Boff in seiner „Kleinen Sakramentenlehre“ betont hat: Die Entdeckung spiritueller Vermittlung in der scheinbaren Banalität. Wenn die besonderen Umstände gegenwärtig jene Orte unmöglich machen, die lange Zeit als die festgesetzten und unhinterfragbaren Gnaden-Kanäle katholischer Heilslehre verstanden wurden, ermöglicht das ein Verständnis neuer Wege oder das Wiederentdecken älterer Traditionen. Religiöse Identität wird zurzeit besonders als etwas sichtbar, das weit über einen direkten Kontakt der Menschen untereinander hinausgeht: Das Gebet einzelner Personen ist auch für die Kirche immer Ausdruck ihres gemeinsamen Betens, jeder Mensch kann einstimmen, selbst wenn er körperlich nicht in der Lage ist, an den Gottesdiensten teilzunehmen. Man sollte nicht vergessen: Der regelmäßige Sakramentenempfang, insbesondere die Eucharistie, ist eine moderne Entwicklung. Jahrhundertelang war es für Nicht-Kleriker eher die Ausnahme, die Kommunion empfangen zu können. Es war insbesondere das persönliche Gebet, mit dem sie sich in die Gemeinschaft, in das Handeln der gesamten Kirche einklinken konnten.
Weihwasser gegen das Virus? #
Die Absagen von Gottesdiensten, von sakramentalen Feiern und öffentlichen Liturgien haben einen empfindlichen Nerv einer Religionsgemeinschaft getroffen, die sich in weiten Teilen auf genau diese Feiern konzentriert hat. Manche sprechen angesichts dieser harten Schritte von Kleingläubigkeit oder sehen darin einen Verrat am Auftrag der Kirche. Schlagworte wie „Mehr Weihwasser gegen das Virus!“, „Die Eucharistie kann nicht infiziert werden!“, usw. sind aber nicht nur theologisch falsch, sondern auch für eine Glaubensgemeinschaft enorm gefährlich, die die Achtsamkeit gegenüber Mitmenschen, besonders den Älteren, Benachteiligten und Kranken hochhalten will.
Die gegenwärtigen Umstände fordern auf, den Blick nach Innen zu wenden, gleichzeitig aber auch die Augen für die besonderen Formen persönlicher Spiritualität offenzuhalten. Die Konzentration auf basale Vorgänge zwischenmenschlichen Lebens und religiösen Glaubens betrifft die kleinen Dinge, insbesondere aber auch das Verhältnis zu den Mitmenschen, die möglicherweise gefährdet sind. Rücksicht wird in diesem Fall – noch mehr als sonst – zu einer wahren christlichen Tugend. Gerade die christliche Rückkopplung des Gottglaubens an das Verhältnis zu den Mitmenschen kann in diesen Zeiten zu einem Erinnerungsstück an die Maßstäbe christlichen Glaubens gelten. Die Wertschätzung des Kleinen, die Heiligung des Banalen, die Entdeckung einer Spiritualität jenseits großer mystischer Inszenierungen ist so eine Chance – eine theologische, aber insbesondere auch eine menschliche.
Der Autor ist Theologe und Erwachsenenbildner in Salzburg.