„Das Virus wird sich wie ein Buschfeuer verbreiten“ #
Während die Türkei wieder Flüchtlinge an die EU-Grenze verfrachtet, wird die Lage der Kriegsvertriebenen in Idlib unerträglich. Nach der Zerstörung droht nun Covid-19. #
Mit freundlicher Genehmigung übernommen aus der Wochenzeitschrift DIE FURCHE (16. April 2020)
Von
Markus Schauta
Die russisch-syrische Offensive in Idlib hat eine Million Flüchtlinge an die türkische Grenze getrieben. Seit 5. März gilt eine Waffenruhe. Zusätzlich zum Elend in den Flüchtlingscamps und dem brüchigen Frieden droht der Nordwestprovinz nun ein unkontrollierter Corona- Ausbruch.
„Wir erwarten eine Katastrophe“, sagt Sami Qadour, Arzt im Al-Kuwait-Krankenhaus in Aqrabat. Neun Jahre Krieg haben die medizinischen Ressourcen und Kräfte der Ärzte aufgebraucht. Es fehle an Personal, Antibiotika und Medikamenten, an Sterilisationsmaterial, OP-Handschuhen und Nadeln. Das Stromnetz ist zusammengebrochen, der Diesel für die Generatoren knapp. Auch die finanziellen Reserven des 35 Kilometer nördlich von Idlib gelegenen Hospitals seien erschöpft. „Seit 1. Jänner arbeiten meine Kollegen und ich unentgeltlich“, so der Arzt. UOSSM, eine Vereinigung humanitärer, medizinischer Nicht-Regierungsorganisationen, hat zugesagt, die Zahlung der Gehälter ab April zu übernehmen.
Und jetzt Covid-19. Die Maßnahmen, die sie gegen eine unkontrollierte Verbreitung des Virus unter den drei Millionen Bewohnern der Provinz ergreifen können, seien begrenzt, erklärt der Arzt am Telefon. Um die Ansteckungsgefahr zu reduzieren, ist im Krankenhaus pro Patient nur ein Besucher erlaubt. Alle nicht-lebensnotwendigen Operationen wurden ausgesetzt. „Schutzmasken, Einweghandschuhe und Schutzbrillen fehlen in allen Krankenhäusern Idlibs“, so Qadour. Hinzu komme eine bedrohliche Knappheit an Beatmungsgeräten. Das Al-Kuwait-Krankenhaus verfügt über ein einziges Exemplar. „In der gesamten Provinz Idlib gibt es 50 Beatmungsgeräte, vielleicht weitere 50 in der Region Afrin.“
Großflächiges Testen der Bevölkerung ist nicht möglich. Das einzige Labor, das die für die Covid-19-Diagnose benötigten Tests durchführen kann, befindet sich in der Stadt Idlib. Derzeit verfügt das Labor über Testkits für etwa 6000 Personen.
Achillesferse der Türkei #
Im Schatten der aufkommenden Coronakrise droht auch der Kampf um Idlib zu eskalieren. Das Waffenstillstandsabkommen vom 5. März sieht vor, dass die durch die Provinz führende Autobahn M5, die Aleppo mit Damaskus verbindet, unter Kontrolle der syrischen Armee bleibt. Die M4 hingegen, die von der Hafenstadt Latakia in den Osten Syriens führt, soll von gemeinsamen russisch-türkischen Patrouillen kontrolliert werden. Doch zivile Proteste und Straßenblockaden verhinderten bisher, dass die Patrouillen wie geplant durchgeführt werden konnten. Am 19. März starben zwei türkische Soldaten durch Sprengsätze auf der M4. Für die Vorfälle wird die Al- Qaida-nahe Hayat Tahrir al-Sham (HTS) beziehungsweise jihadistische Gruppen aus ihrem Umfeld verantwortlich gemacht. „HTS will keinen Frieden“, so Yahya Mayo, Medienkoordinator der von der Türkei unterstützten Freien Syrischen Armee (FSA). „Wir versuchen immer wieder sie (Anm.: jihadistische Gruppen) zu zügeln, sollte der Waffenstillstand platzen, werden sie dafür zur Verantwortung gezogen.“
Die Vorfälle zeigen, wie gespalten die Opposition in Idlib ist. Gleichzeitig kooperieren die einzelnen Milizen im Kampf gegen die Regierungsarmee. Die FSA würde zwar die Ideologie der Jihadisten nicht teilen, so Mayo, habe aber gemeinsame Einsatzzentralen mit ihnen, um ihr Vorgehen gegen die syrische Armee zu koordinieren. HTS ist mit geschätzten 15.000 bis 20.000 Soldaten die stärkste Rebellenmiliz im Kampf gegen die syrische Armee. Die bewaffnete Opposition kann auf einen Verbündeten mit dieser Kampfkraft nicht leicht verzichten.
Gleichzeitig steht die Türkei unter Druck Russlands, das auf seinem Standpunkt beharrt, jihadistische Milizen in Idlib müssten eliminiert werden, bevor die russisch- syrische Offensive beendet werden kann. Die Jihadisten in Idlib, die Erdoğan zeitweise in ihrem Kampf gegen Assad unterstützt hat, sind seine Achillesferse. Bisher ist die Türkei nicht offen gegen HTS vorgegangen. Unbestritten ist, dass Kämpfe innerhalb der Opposition die Rebellen in Idlib weiter schwächen und einen Vorstoß der syrischen Armee nach Norden erleichtern würden.
Das Ergebnis der Eskalation wären weitere zehntausende Flüchtlinge an der türkischen Grenze. Doch 3,5 Millionen Syrer befinden sich bereits in der Türkei. Weitere aufzunehmen, will der wegen seiner Flüchtlingspolitik innenpolitisch unter Druck geratene Erdoğan um jeden Preis vermeiden. Jene, die in den Lagern auf türkischem Boden untergebracht sind, scheinen nun auch noch als Druckmittel gegen die EU benutzt zu werden. Über das Wochenende wurden zuletzt etwa 2000 Flüchtlinge aus dem Landesinneren nach Izmir gebracht, mit der Aussicht, von dort in Schlepperbooten nach Lesbos übersetzen zu können.
Der Zusammenbruch der Opposition in Idlib würde der Türkei zusätzlich einen Ansturm tausender Kriegsveteranen bescheren, viele von ihnen mit jihadistischem Hintergrund. Diese will Erdoğan weder in direkter Grenznähe und schon gar nicht in der Türkei haben. Um auf die Fortsetzung der Offensive vorbereitet zu sein, schickt Erdoğan daher weitere türkische Truppen in den Süden Idlibs. Etwa 20.000 sollen es inzwischen sein.
Der Waffenstillstand hat die Kolonne der Flüchtlinge Richtung türkischer Grenze zwar vorerst gestoppt. Doch in den Lagern um Idlib schleicht sich nun Covid-19 ein. In den überfüllten Camps, mit zu wenigen Sanitäranlagen und Mangel an sauberem Wasser, sind Quarantänemaßnahmen kaum umsetzbar. Die Menschen müssen sich für Wasser und Hilfsgüter anstellen, und jene, die eine Arbeit haben, können es sich nicht leisten, zu Hause zu bleiben. „In den Lagern wird sich das Virus wie ein Buschfeuer verbreiten“, sagt Ahmed*, Mitarbeiter einer internationalen Hilfsorganisation. Ob die Einrichtung, für die er arbeitet, weiterhin helfen kann, hängt vom Nachschub an Hilfsgütern ab. Werden die Grenzen aufgrund des Coronavirus geschlossen, bricht auch diese letzte Hilfe für die Flüchtlinge zusammen.
Erste bestätigte Fälle #
Damaskus selbst hat am 23. März den ersten Covid-19-Fall vermeldet. Am 31. März gab es zehn bestätigte Fälle und zwei Tote. Analysten gehen davon aus, dass die Dunkelziffer weitaus höher ist. Die Grenzen zwischen der Provinz Idlib und der Türkei sind inzwischen geschlossen. Kollegen von Qadour, die in der Türkei leben und für ein paar Tage die Woche ins Al-Kuwait- Krankenhaus gekommen sind, um zu helfen, können das nicht mehr tun. „Wir haben nun noch weniger Personal, um die Pandemie zu bekämpfen“, so der Arzt.
Qadour berichtet von Patienten mit Symptomen, die auf eine Infektion mit dem Virus hindeuten. Die WHO hat angekündigt, medizinisches Personal, 10.000 Schutzmasken und 500 Beatmungsgeräte nach Idlib zu schicken. Bisher sei davon nichts angekommen, so Qadour: „Wenn die internationale Gemeinschaft uns jetzt im Stich lässt, wird es eine Katastrophe geben.“
* Name von der Redaktion geändert