Mehr Gedenk- und Nachdenkkultur#
2020 ist ein großes Gedenkjahr. Es ist zu hoffen, dass das Gedenken nicht wie im Vorjahr der Innenpolitik zum Opfer fällt.#
Von der Wiener Zeitung (11. April 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt
von
Herbert Vytiska
In Zusammenhang mit dem Coronavirus ist immer wieder von „der größten Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg“ die Rede. Wer heute in den Tagebüchern unserer Vorfahren über die Kriegsjahre von 1939 bis 1945 stöbert, wird mit einem Szenario des täglichen Schreckens konfrontiert. Sei es daheim oder an der Front. Als dann Ende April vor 75 Jahren der Krieg endete, stand Europa vor den Trümmern, die ein wahnsinniger Diktator verursacht hatte, dem nicht rechtzeitig mit aller Härte der Kampf angesagt worden war. Der Krieg hatte millionenfache Wunden geschlagen, bis hinein in die Familien. Und dennoch – Österreich ist dafür ein gutes Beispiel – sammelten die Menschen, die Politiker alle ihre Kräfte, um aus den Trümmern neues Leben entstehen zu lassen. Und wie dies gelang. Dieser Mut, diese Kraft und der Glaube an eine neue Zukunft werden auch nach der Corona-Krise wieder nötig sein. Die Pflege der Gedenkkultur ist dabei ein ganz wichtiger Bestandteil.
Zwei sehr unterschiedliche Häuser der Geschichte#
Es ist eigentlich zu wenig, was sich dazu im mehr als 300 Seiten starken Regierungsprogramm findet. Wenngleich es im Vorwort heißt, „nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft entsprechend gestalten“, so ist das Kapitel Gedenkkultur doch recht mager ausgefallen. Es umfasst gerade einmal etwas mehr als 70 Wörter. Irgendwie spiegelt dies auch die Tatsache wider, dass vor allem die Zeitgeschichte nach der Monarchie unterschiedlich emotional, nämlich noch immer mit einer roten und schwarzen Brille gesehen wird. Dies gilt nicht nur für die Erste, sondern teils auch für die Zweite Republik. Ein Beispiel dafür ist die Existenz von gleich zwei Häusern der Geschichte: jenem, das bereits sich seit 2017 in St. Pölten befindet; und einem in Wien, das von der rot-schwarzen Regierung begründet wurde und 2018 eröffnet wurde. Die beiden könnten nicht unterschiedlicher sein.
Das Haus der Geschichte in der niederösterreichischen Landeshauptstadt ist sehr umfassend ausgelegt, legt besonderen Wert auf museumspädagogische Elemente und ist um politische Ausgewogenheit bemüht. Es steht völlig unberechtigt im Schatten des Hauses der Geschichte in Wien. Dieses beschränkt sich auf die Zeitgeschichte seit Mitte des 19. Jahrhunderts und wird dem Anspruch einer objektiven Geschichtsaufarbeitung noch nicht wirklich gerecht. Auch der relativ beschränkte Platz in der Neuen Hofburg verlangt – im Vergleich zu ähnlichen Einrichtungen in Bonn oder Brüssel - nach einer Reform, von der viele Experten überzeugt sind, die aber im Regierungsprogramm mit keinem Wort erwähnt wird. Eine Reform, die es in sich hat, zu einem Streitpunkt zu werden. Spielen doch auch ideologische Momente noch immer eine nicht unerhebliche Rolle. Steht etwa in St. Pölten der Dienstwagen des ersten Bundeskanzlers Leopold Figl, ein schwarzer Mercedes, in der Auslage, so bildet in Wien das Holzpferd aus Kurt Walheims umstrittenem Präsidentschaftswahlkampf den Mittelpunkt.
Die SPÖ hat ein viel selbstbewussteres Geschichtsbewusstsein als die ÖVP. Das zeigt sich am Beispiel von Kanzler Josef Klaus (ÖVP), der von 1966 bis 1970 ein großes Reformprogramm (wie etwa die Schaffung eines unabhängigen öffentlich-rechtlichen ORF) durchgezogen hatte und Bruno Kreisky (SPÖ) einen fast schuldenfreien Staatshaushalt hinterließ. Klaus ist fast in Vergessenheit geraten, dafür wird Kreisky, dessen 13-jährige Alleinregierung mit der Nationalratswahl am 1. März 1970 begründet wurde, gerade auf- und abgefeiert, als hätte er als einziger Politiker die Geschichte der Zweiten Republik nachhaltig geprägt. Irgendwie vermisst man eine adäquate Darstellung des Beitrags von ÖVP-Politikern in den vergangenen 75 Jahren (auch in der Kreisky-Ära), und das reicht immerhin von der Gründung des neuen Österreich 1945 über den Staatsvertrag 1955 bis hin zum EU-Beitritt 1995.
Das Gedenkjahr 1989 und die Gegenwart der EU#
Weit weniger Anlass für unterschiedliche politische Interpretationen hätte das Gedenkjahr 1989 geboten. Und doch blieb es unterbelichtet, und das nicht nur, weil 2019 der Ibiza-Skandal die türkis-blaue Regierung aus dem Amt vertrieb. Drei historische Tage wurden in ihrer Konsequenz für Europas künftige politische Landschaft nicht wirklich erfasst: Am 27. Juni 1989 wurde der Eiserne Vorhang an der österreichisch-ungarischen Grenze von den Außenministern Alois Mock und Gyula Horn durchschnitten. Dieses Bild signalisierte – und das war sein eigentlicher Wert – vor allem den Menschen im Osten, dass erstmals eine Bresche in den Eisernen Vorhang geschlagen wurde.
Am 28. Juni hielt der serbische Präsident Slobodan Milosevic am Amselfeld jene Rede, die schnurstracks in den Balkan-Krieg führte, wobei Österreich zunächst ein einsamer Warner blieb. Schon damals zeigte sich die Lähmung der EU bei Problemlösungen in heiklen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik.
Am 29. Juni gab es schließlich grünes Licht für Österreichs Beitrittsantrag an die EG. Es bekam damit die Chance, eine Schlüsselfunktion mit den neuen Demokratien einzunehmen. Genau genommen – und das steht heute fest: Hätte es 1989 nicht mit all seinen Ereignissen gegeben, so gäbe es heute nicht die EU mit 27 Staaten, und Österreich wäre nicht vom östlichen Rand Westeuropas ins Herz des großen Europas gerückt. Aber sind wir uns dessen bewusst? Allein der Platz, wo damals der Eiserne Vorhang durchschnitten wurde, ist mehr als armselig (neben einer alten Parkbank findet sich ein verwitterter Gedenkstein der Stadt Sopron) und nur für Insider auffindbar.
Nachhaltige Politik für morgen auf dem Fundament von gestern#
Auch 2020 ist ein großes Gedenkjahr. Nicht nur, weil vor genau 75 Jahren der Zweite Weltkrieg endete und die Zweite Republik gegründet wurde. Am 16. Juli ist es auch genau 100 Jahre her, dass mit dem Vertrag von St. Germain Österreich vom 52-Millionen-Einwohner-Reich auf einen kaum überlebensfähigen Staat schrumpfte. Am 24. Oktober 1945 wurde die UNO gegründet (an deren Spitze mit Waldheim zehn Jahre lang ein Österreicher stand). Nicht zuletzt die erste Nationalratswahl am 25. November 1945 zeigte, dass selbst in einer tristen Lage der Glaube an einen Neuanfang unbesiegbar war. Die Wähler, mehrheitlich Frauen, ersparten mit 49,8 Prozent für die neue ÖVP, 44,6 Prozent für die SPÖ und nur 5,4 Prozent für die KPÖ Österreich ein Schicksal wie jenes der östlichen Nachbarländer. Eine selbstbewusste Generation politischer Gründungsväter verdarb dem Kreml den Appetit auf die Alpenrepublik.
Wer nachhaltige Politik für heute und morgen gestalten will, muss sich auch des Fundaments bewusst sein, das frühere Generationen geschaffen haben. Gedenkkultur verdient durchaus mehr Aufmerksamkeit.
Herbert Vytiska ist Journalist und Autor. Von 1971 bis 1987 war er Pressesprecher von Alois Mock beziehungsweise der Bundes-ÖVP.