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Brennglas auf Risse in Schwedens System#

Schweden setzt im Kampf gegen das Coronavirus auf Freiwilligkeit. Es verzeichnet mehr Infizierte und Todesfälle durch Covid-19 als andere Länder, dennoch ebbt die Pandemie ab. Mythen und Wahrheiten zu einem umstrittenen Sonderweg.#


Von der Wiener Zeitung (9. Mai 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Eva Stanzl


70 Prozent der Schweden halten die Strategie ihres Nationalepidemiologen Anders Tegnell für richtig
70 Prozent der Schweden halten die Strategie ihres Nationalepidemiologen Anders Tegnell für richtig.
Foto: afp/Jonathan Nachstrand

Siebthöchste Sterberate weltweit: Zweifel an Schwedens Sonderweg. Coronavirus: Das Missverständnis vom schwedischen Weg. So und ähnlich lauteten die Schlagzeilen im April, als bekannt wurde, dass das Land alle Läden und Gastronomiebetriebe geöffnet ließ, seine Grenzen nicht schloss und im Kampf gegen das Coronavirus auf freiwilliges Mitmachen statt Restriktionen setzt. Es musste mehr Tote als andere Länder verschmerzen. Nun aber infiziert auch in Schweden jeder Erkrankte weniger als eine andere Person. Damit hat es ähnlich gute Voraussetzungen wie Österreich, das Virus Sars-CoV-2 zurückzudrängen.

Schweden hat rund 10,2 Millionen Einwohner. Laut der Johns Hopkins Universität, die Corona-Fälle weltweit registriert, waren am 8. Mai um 13.00 Uhr bisher 24.623 Menschen an Covid-19 erkrankt und 3040 Menschen daran gestorben. 4074 Personen gelten als geheilt. Zum Vergleich: Österreich verzeichnete zur gleichen Zeit 15.708 Infizierte, 614 Tote und 13.836 Genesene.

„Keine Hippie-Strategie“#

Die hohen Todesraten veranlassten kürzlich 22 renommierte Wissenschafter zu einem offenen Brief in der Stockholmer Tageszeitung „Dagens Nyheter“. Sie prangerten ein Scheitern der Gesundheitsbehörden an, forderten strengere Maßnahmen und kritisierten insbesondere die hohen Sterberaten in Pensionisten- und Pflegeheimen. Über 90 Prozent der bisher an Covid-19 Verstorbenen in Schweden waren älter als 70 Jahre und 50 Prozent lebten in Pflegeheimen. Am Donnerstag reagierte die Regierung unter Ministerpräsident Stefan Löfven mit der Ankündigung einer Untersuchungskommission, die dem Problem auf den Grund gehen soll.

Ist das der Preis der Herdenimmunität, die alle retten könnte, indem durch die Krankheit Immune alle anderen schützen? Auch dieser Gedanke begleitet die Diskussion über den schwedischen Sonderweg. Philipp Fink, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung für Nordische Länder in Stockholm, will mit einem Mythos aufräumen. „Schweden hat nie, wie etwa Großbritannien am Anfang, Herdenimmunität angestrebt. Das Thema war immer, die Überbelastung der intensivmedizinischen Einrichtungen zu verhindern und Leben zu schützen“, sagte er am Freitag vor Journalisten in einem Webinar des Forum Journalismus und Medien.

Ausgerechnet bei der Risikogruppe wurde dieses Ziel allerdings verfehlt. Aufgrund einer Sparpolitik zähle Schweden zu den Schlusslichtern bei der Versorgung mit Intensivbetten, erklärte Fink. Der nordische Wohlfahrtsstaat habe den Pflegesektor liberalisiert, der nun profitorientiert arbeiten müsse und Arbeitskräfte mitunter nur auf Stundebasis beschäftige. „Teile des Pflegepersonals können es sich gar nicht leisten, krank zu sein, daher gehen sie trotz Krankheit arbeiten. Oftmals sind es Migranten, die wegen der hohen Wohn- und Lebenskosten in beengten Verhältnissen leben. Wir haben gesehen, dass die Hotspots der Pandemie in Stockholm vor allem migrantisch geprägte Viertel waren“, sagte der Wirtschaftswissenschafter, der die Corona-Krise in Schweden seit Beginn beobachtet und über die Entwicklungen nach Deutschland berichtet. „Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas, das die Risse im System offenlegt.“

Epidemiologe als Rockstar#

Zugleich fehlte der Regierung in Stockholm zu Beginn der Krise die rechtliche Grundlage, um den zivilen Notfall auszurufen. Traditionellerweise beruhen die Richtlinien zur Eindämmung von Infektionskrankheiten nämlich tatsächlich auf Freiwilligkeit: Jeder Schwede trägt die Verantwortung, niemanden zu infizieren. „Um schärfere Maßnahmen umzusetzen, hätten wir das Kriegsrecht bemühen müssen. Vor Ostern musste man die Gesetzgebung dahingehend adaptieren, dass im Ernstfall auch ohne Kriegsrecht ein Lockdown möglich wäre und der Staat in den Regionen einwirken könnte“, sagte Fink.

Das Ergebnis war eine „sehr schwedische“ Lösung, wie der Experte betonte: „Freiwilligkeit ist keine Montessori-Hippie-Strategie, sondern ein wichtiger Bestandteil der Gesellschaft selbst, weil es hier ein hohes Sozialkapital gibt und ein starkes Vertrauensverhältnis zwischen Bürgern und Staat.“ Anonyme Bewegungsdaten zeigen, dass sich das Verhalten der Bürger am Höhepunkt der Krise von jenem der Deutschen und Österreicher kaum unterschied. Auch die Schweden blieben zu Hause. Osterurlaube gingen um 92 Prozent zurück. Umfragen zufolge hielten sich 95 Prozent der Bürger an Empfehlungen und Hygienerichtlinien. Zugleich wurde „klar kommuniziert, dass mit Corona ein Marathon vor uns liegt, an dem aber weder Gesellschaft noch Wirtschaft zusammenbrechen sollten“.

Die Regeln sind einfach, deren gibt es nämlich nur drei: keine Versammlungen mit mehr als 50 Personen, keine Allgemeinen und Höheren Schulen über der neunten Schulstufe und keine Besuche in Pensionisten- und Pflegeheimen. Zudem gibt es die Empfehlung, im Homeoffice zu arbeiten. All diese Maßnahmen wurden bis zum 31. Dezember beschlossen.

„Hände waschen!“, mahnt Anders Tegnell von einem heroisch anmutenden Plakat, das aus der Hand des US-Graffitikünstlers Sheperd Fairey stammen könnte. In seinem Land ist der international kritisierte Architekt des schwedischen Sonderwegs so etwas wie ein Rockstar. Ob er wirklich einen guten Weg gewählt hat, werden die kommenden Monate zeigen. 70 Prozent der Schweden halten die Strategie ihres Nationalepidemiologen jedenfalls für die richtige. Auch die hohe Sterblichkeit und Wirtschaftsprognosen ändern das nicht.

Obwohl Gastronomie-, Tourismus- und Handelsbetriebe offen sind, gehen weitaus weniger Menschen hin. Die schwedische Zentralbank geht davon aus, dass die Wirtschaft heuer um 6,9 Prozent schrumpfen wird – auf den ersten Blick ist das kein Vorteil gegenüber Deutschland oder Österreich. Allerdings waren hierzulande die Prognosen während des Shutdown noch weitaus trister. Und immerhin: Selbst wenn weniger Menschen zum Einkaufen kommen, bedeutet das mehr Umsätze, als wenn der Laden dicht ist.

Wiener Zeitung, 9. Mai 2020