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Die Spanische Grippe in Wien#

Zuerst weitgehend ignoriert, schlug die Virusinfektion im Spätherbst 1918 voll zu – und sorgte, mitten im Untergang der Habsburgermonarchie, für rund 6500 Todesopfer.#


Von der Wiener Zeitung (28. März 2020) freundlicherweise zur Verfügung gestellt

Von

Alfred Pfoser


Portrait Egon Schiele. Photographie. 1914.
Prominentestes Grippeopfer: Egon Schiele, der am 31. 10. 1918 starb.
Foto: IMAGNO/Austrian Archives

Die Sargmacher kamen mit der Arbeit genauso wenig nach wie die Städtische Bestattung. Davon erzählt eine Geschichte in einer Zeitung: Ein Ottakringer Arbeiter, dessen siebeinhalbjähriger Sohn gestorben war, musste sich selbst auf die Suche nach einem Sarg machen und wurde nur in einer der Sargfabriken fündig. Mangels Fuhrwerke musste er den Sarg allein nach Hause tragen. Nun konnte er den Leichnam in einen Sarg legen, aber erst nach Bitten und Betteln bewerkstelligte die Feuerwehr den Leichentransport zur Totenkammer des Friedhofs.

Das Begräbnis war drei Tage später um 14 Uhr anberaumt – zusammen mit 14 anderen Begräbnissen. Der überbeschäftigte Pfarrer hatte erst um 17.45 Uhr Zeit, dass der Sarg unter geistlicher Begleitung in das Grab gesenkt werden konnte.

900 Tote in einer Woche#

Bis Ende September 1918 war die Spanische Grippe weit weg. Die Zeitungen fanden sie angesichts der dramatischen Entwicklungen im Ersten Weltkrieg kaum eine Erwähnung wert. Aber dann plötzlich war in Österreich-Ungarn alles anders. Ihr Auftritt in Österreich fiel, in fataler Koinzidenz, zusammen mit dem Zusammenbruch und der Auflösung der Habsburgermonarchie. Während die k.u.k. Armee an der Front zerbröselte und in Wien, Prag, Budapest oder Zagreb Nationalversammlungen die Autonomie erklärten, wütete die Spanische Grippe in Wien, noch stärker allerdings in Triest und Prag.

Besonders erschreckte, dass die Epidemie die Jungen, die Gesunden und Kräftigen hinwegraffte. Die Alten, Kranken und Geschwächten, so vermuteten die Mediziner, waren wegen früherer Erkrankungen immun. In der schlimmsten Phase Mitte Oktober starben in Wien in einer Woche bis zu 900 Personen. Historiker sprechen für den Zeitraum 1918 bis 1920 von insgesamt 6500 Grippetoten. Aber wirklich genaue Zahlen lassen sich auch retrospektiv nicht eruieren. Die Mediziner konnten damals Lungenentzündung und Grippe nicht auseinanderhalten.

Die Dunkelziffer war groß, im Chaos dieser Tage hatte eine valide Statistik keine Priorität und war technisch nicht machbar, auch wenn die Forderung nach Anzeigepflicht immer wieder erhoben wurde. Die Behörden wollten zwar Übersicht, waren aber unfähig, sie herzustellen.

Auffallend in der zeitgenössischen Berichterstattung ist, dass die Spanische Grippe auf den hinteren Seiten der Tageszeitungen abgehandelt wurde. War der massenhafte Tod im Hinterland angesichts der Toten an der Front und der vielen Tuberkulosetoten in den vergangenen Jahren einfach keine Schlagzeile (mehr) wert?

Der Kampf ums Überleben trieb die Leute auf die Märkte; die Primärbedürfnisse unterdrückten die Angst, dass man sich beim Anstellen und in den zum Bersten vollen Tramways anstecken könnte. Wer versorgte die Menschen? Einen Lieferservice gab es nicht. Eine Schließung der Gemeinschaftsküchen mit Massenausspeisung kam nicht in Frage. Auch die Maßnahme der Gemeindeverwaltung, Kranke auf ein ärztliches Attest hin bevorzugt mit Milch und Mehl zu versorgen, wirft ein Licht auf Elend und Chaos jener Tage.

Die Spanische Grippe trug dazu bei, dass die Legitimität der kaiserlichen Regierung noch weiter unterminiert wurde. Nach dem Schlamassel an der Front kam jetzt noch die komplette Planlosigkeit im Hinterland hinzu. Fehlende Ärzte, fehlendes Pflegepersonal, fehlende Medikamente, fehlende Krankenhausplätze, fehlende Betreuung zu Hause. Hilflosigkeit allerorts.

Die Zögerlichkeit der Militärverwaltung trug das Ihre dazu bei, dass die medizinische Fürsorge während der Epidemie in Wien nicht funktionierte. Eingezogene Ärzte wurden trotz aller Hilferufe erst mit Verspätung zur zivilen Versorgung abkommandiert. Es vergingen Wochen, ehe man den Schwerkranken in den von den Militärs okkupierten Spitälern Betten und separierte Zimmer einräumte.

Zum PR-Fiasko geriet, dass die Armee erst nach viel Druck von Seiten der Gemeinde Autos für das Weiterkommen der praktizierenden Ärzte zur Verfügung stellte. Und auch diese Fahrzeuge mussten noch vorher repariert werden. Bürgermeister Weiskirchner ätzte im Gemeinderat: „Ich hoffe, dass die Epidemie nicht so lange dauert, bis die Autos repariert sind.“ Auch dass Arbeiter – wegen Bagatelldelikten in den militarisierten Betrieben – in den Arrestzellen der Rossauer Kaserne, einem Hotspot der Grippe, landeten, empörte die Öffentlichkeit. Ein Staat, der das Leben seiner Bürger solcherart aufs Spiel setzte, verlor jede Glaubwürdigkeit.

Im Kleingedruckten der Zeitungen erfuhr man von Tragödien, die sich vor aller Augen abspielten: „Mittwoch abend ist in einem Straßenbahnwagen ein Mann von plötzlichem Unwohlsein befallen worden. Man hob ihn aus dem Wagen und einige Minuten später ist er gestorben. Er hatte, wie festgestellt wurde, an spanischer Grippe gelitten.“ Dagegen war in der Öffentlichkeit kaum sichtbar, welche Dramen unter der Aufmerksamkeitsschwelle stattfanden, etwa bei den Hausbediensteten. Grippekranke Köchinnen oder Kindermädchen wurden sofort entlassen – und standen vor dem Nichts.

Umstrittene Schließung#

Ähnlich wie heute bewegte die Schließung der Schulen die Öffentlichkeit. Zuerst wurden von den Behörden nur jene Klassen geschlossen, in denen 15 Prozent der Schüler von der Krankheit betroffen waren. Vom 21. Oktober bis 4. November waren dann alle Volks-, Bürger- und Mittelschulen zugesperrt. Auch bei der Schließung der Theater, Kinos, Konzerthäuser und Singspielhallen wartete man lange zu; ebenfalls erst ab 21. Oktober mussten diese zugeriegelt bleiben. Die Direktoren leisteten im Namen der vielfach prekär beschäftigten Schauspieler Widerstand. Wer würde diese, wenn die Einnahmen ausfielen, versorgen? Fußballspiele, damals noch nicht so populär, blieben von der Einschränkung des öffentlichen Lebens unberührt.

Wenn heute von der Spanischen Grippe geschrieben wird, dann fällt meist der Name des Malers Egon Schiele, der am Ende der Grippewelle, am 31. Oktober, starb. Am 6. November, also rechtzeitig vor der Republikgründung am 12. November, berichteten die Zeitungen, dass die Grippe zwar nicht ganz aus Wien verschwunden, aber die Mortalitätsrate stark zurückgegangen war. Das Thema war aus der öffentlichen Wahrnehmung entschwunden.

Alfred Pfoser, geboren 1952, lebt als Sachbuchautor und Publizist in Wien.

Wiener Zeitung, 28. März 2020