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Thomas Thiemeyer: Das Depot als Versprechen#

Bild 'Thiemeyer'

Thomas Thiemeyer: Das Depot als Versprechen. Warum unsere Museen die Lagerräume ihrer Dinge wiederentdecken. Böhlau Verlag Köln Weimar Wien. 299 S., ill., € 35,-

Vor vier Jahren haben Stefan Oláh und Martina Griesser-Stermscheg einen faszinierenden Bildband über Museumsdepots herausgegeben, die sie als " Orte unerwarteter Entdeckungen" bezeichneten. Mehr als 90 % der Museumsbestände werden nicht ausgestellt, sondern für das Publikum unzugänglich gelagert. Allerdings ist in etlichen Museen eine Rückbesinnung auf ihre Depots zu beobachten, die sich in Studiensammlungen, Archivausstellungen oder Schaudepots manifestiert. Ihnen nähert sich der Tübinger Kulturwissenschaftler Thomas Thiemeyer anhand praktischer Beispiele mit großem theoretischem Horizont.

Die vier Portraits von Depotausstellungen beginnt er mit dem k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie. 1864 gegründet, sollte es als Vorbildsammlung für Handwerk und Kunstgewerbe fungieren. Das Cover des Buches zeigt einen Blick in die - 1993 bis 2013 bestandene - Studiensammlung des jetzigen MAK. Mehr als eineinhalb Jahrhunderte zuvor (1852) hatte der Architekt und Kulturtheoretiker Gottfried Semper seine Vorstellung von einem "idealen Museum" formuliert, die hier umgesetzt wurden. Demnach sollte ein kunstgewerbliches Museum seine Objekte nach Materialien sortieren. Das Museum für Angewandte Kunst folgte diesem Prinzip bis fast in die Gegenwart. Der Wechsel der Direktion (Peter Noever, 1986) brachte mit der Generalsanierung die Neugestaltung. Die Dauerausstellung wurde nun - von Künstlern - nach Epochen angeordnet. Im Untergeschoss entstand die öffentlich zugängliche Studiensammlung für Möbel, Metall, Glas, Keramik und Textilien. Das Schaudepot war nüchtern, hell und übersichtlich. Nach zwei Jahrzehnten hat sich das MAK davon verabschiedet. "Dem neuen Direktor Christoph Thun-Hohenstein erschienen die Studiensammlungen mit ihrer 'Kellerästhetik' optisch veraltet, inhaltlich zu unterschiedlich und didaktisch zu sehr auf den Schauwert der Dinge reduziert." Nachfolger wurde das "MAK Design Labor", dessen zwölf Räume thematisch gegliedert und inszeniert gestaltet sind.

Das zweite Portrait stellt das Übersee-Museum Bremen vor. Vorläufer des Städtischen Museums für Natur-, Völker- und Handelskunde war das 1776 gegründete Naturalien-Cabinet der Physikalisch-ökonomischen Lesegesellschaft. Ein Jahrhundert danach verkaufte der Verein seine Bestände der Hansestadt Bremen. Seit 1878 besaß diese zwei bedeutende Sammlungen zu Naturgeschichte und Anthropologie. Die Bestände wuchsen rasch an, in den 1990er Jahren war die Magazinfrage nicht länger aufzuschieben. Die Verantwortlichen ließen sich vom Museum of Anthropology in Vancouver inspirieren und eröffneten 1999 das Schaumagazin, als erstes in Europa und größtes der Welt. Während die handelskundlichen Objekte nach Sachgruppen und die völkerkundlichen Bestände geographisch sortiert sind, gelten für die Ordnung der naturkundlichen Magazine biologische Taxonomien. Architektonisch sind das neunstöckige Schaumagazin und das Bremer Multiplexxkino eine Synthese eingegangen, die schon im Namen "Übermaxx" (Übersee-Museum + Cinemaxx) Ausdruck fand. Große Schaufenster im Kinofoyer geben den Blick auf spektakuläre Depotstücke, wie einen Pottwal oder riesige Schiffsmodelle, frei. Während die naturkundlichen Objekte mit Bezug zur Biodiversität Aktualität erlangten, traf die ethnographische Abteilung die Krise der völkerkundlichen Sammlungen - Stichworte: rechtmäßiger Besitz fremden kulturellen Erbes, Stereotype, Kolonien … Auch war die Sammlung nach einer kurzen Hochphase zu Beginn von weniger Besuchern als erwartet frequentiert worden. Anfang des 21. Jahrhunderts musste das Konzept überarbeitet werden.

Jedes Portrait nimmt seinen Ausgang bei einem bestimmten Objekt: Die galvanoplastische Reproduktion einer spätgotischen Goldkanne in Wien, das Präparat eines Doppelhornvogels in Bremen, das Manuskript von Alfred Döblins 1929 veröffentlichtem Roman "Berlin Alexanderplatz" im Marburger Literaturmuseum der Moderne. Die Präsentation von literarischen Archivalien unterscheidet sich von anderen Ausstellungen schon durch die Art der Exponate. Literaturmuseen fragen sich, wie man eine Kunst ausstellen kann, deren Ästhetik sich im Kopf des Lesers entfaltet und auf der Schönheit der Worte gründet. In Marburg gestaltete man die Schausammlung 2006 unter dem Titel "nexus", seit 2015 als "Die Seele". Thomas Thiemeyer schreibt zusammenfassend: "Der unkonventionelle Ausstellungsstil von nexus hatte nach zehn Jahren sein provokatives Potential für Marbach ausgereizt. … Die neue Ausstellung Die Seele ist keine Konzeptkunst mehr, die maßgeblich als großes Schaubild beeindruckt. … Es ist … eine poetische Phantasie über die Dinge."

Der Autor zieht unterschiedliche Typen von Museen für seine Analyse heran. Das vierte Portrait ist einer ungewöhnlichen Sammlung gewidmet: Das "Museum der Dinge" (zuvor Museum der Alltagskultur des 20. Jahrhunderts) in Berlin-Kreuzberg mit dem Werkbundarchiv. Die Bibliothek beschäftigt sich mit der 1907 gegründeten Lebensreformbewegung des Deutschen Werkbunds. Die Museumsexponate stammen großteils vom Flohmarkt. Die Formulierung der Zielsetzung spricht von kritischer Hinwendung zum Alltag. Thomas Thiemeyer charakterisiert sie: "Dieses pathetische Bekenntnis zu Subversion durch einen neuen Wissensbegriff und Ausweitung der Kunstzone verrät seine Herkunft durch den Jargon der Neuen Sozialen Bewegungen nach 1968." In den 1980er und frühen 1990er Jahren war das Museum für seine multimedialen Raumbilder, seriellen Präsentationen und bühnenbildartigen Szenografien bekannt. Dank der erfolgreichen Ausstellungen erschien das Werkbundarchiv der Öffentlichkeit als Forum der Alltagskultur." Nach der erzwungenen Übersiedlung 2007 verteilen sich die Bestände auf drei Depots, teilweise noch immer in Kartons verpackt. Die Schausammlung wurde als "offenes Depot" deklariert. Weil die Dinge nicht wirklich sichtbar sind, helfen die Abbildungen der Datenbank.

Fast könnte man meinen, die Idee der Depotausstellungen wäre überholt. Sie verdankte sich intellektuellen Impulsgebern, die der Autor als linkes Denken und Neue Kulturpolitik der 1970er Jahre, Krise der Repräsentation, Wiederentdeckung der materiellen Kultur und neuer Archiv-, Sammlungs- und Wissensdiskurs benennt. Zusammenfassend referiert er nochmals die Voraussetzungen und Chancen der Schaudepots, Theorien und politische Ideen, die zu dieser Präsentationsform führten und bleibt optimistisch. Nicht zuletzt dank Smartphone-Apps steht die Fülle der Dinge nicht mehr in Konkurrenz zur darstellbaren Informationsmenge. Das Buch eröffnet Zusammenhänge, die normalerweise im Dunklen bleiben, wie die Mehrzahl der Depotobjekte. Die (nicht nur für Fachleute) erhellende Lektüre verspricht großen Erkenntnisgewinn und ist allen zu empfehlen, die Museen besuchen und sich für einen Blick hinter die Kulissen interessieren.