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Erb.Gut? Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft#

Erb.Gut? Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft. Hg. Karl C. Berger, Margot Schindler, Ingo Schneider. Selbstverlag des Vereins für Volkskunde Wien 2009. 472 S. € 24,-

Eines vorweg: Dieses Buch ist nicht nur interessant für die Wissenschaft, wie der Untertitel glauben lässt, sondern für die Gesellschaft, zu der jedermann und jederfrau gehören. Es handelt sich um den Tagungsband der 25. österreichischen Volkskunde-Tagung in Innsbruck. Ihr Thema - Kulturerbe - drängte sich geradezu auf. Ein Jahr vor dem Kongress trat das Übereinkommen zur Erhaltung des Immateriellen Kulturerbes der UNESCO in Kraft. Seit 2009 ist Österreich einer der 116 Vertragsstaaten. Für die Wichtig- und Richtigkeit der Themenwahl der Tagung sprach das Interesse daran. Noch nie hatte es so viele Anmeldungen und Vorträge gegeben. Drei Tage lang wurde in drei Sektionen intensiv diskutiert.

Die Fragestellungen und Antworten, die nie erschöpfend sein können, fanden ihren Niederschlag im Tagungsband. Dass er (wie üblich) spät kommt, tut der Aktualität keinen Abbruch. 41 Plenarvorträge sind darin gesammelt. Es geht um Österreich - aber nicht nur -, um schöne und problematische "Erbstücke", um so unterschiedliche Themen wie Identität, Inszenierung der Migration, Tourismus und Kulinarik, Katastrophen und Konzentrationslager. Schade nur, dass die Kurzbiographien der Vortragenden fehlen. So hätten sich jene besser ein Bild machen können, die nicht teilnehmen konnten und persönliche Begegnungen vermissen müssen.
Den Eröffnungsvortrag, hier das erste Kapitel, verfasste der deutsche Kulturwissenschaftler Martin Scharfe. Er begann mit einem "Plädoyer für ein dreifaches Misstrauen in die Kategorie des Kulturellen Erbes". Demnach ist Kulturelles Erbe ein Begriff der politischen Praxis, d. h. ein Ausdruck konkurrierender Mächte. Denn, wer bestimmt, was und warum zum UNESCO-Welterbe erklärt wird? Zweitens ist es ein anthropologisch naiver Begriff, "weil Kultur als Menschen-Werk zu ganz erheblichen, vielleicht gar in entscheidenden Teilen dem Unbewussten verpflichtet ist". Drittens kritisiert Martin Scharfe die Unterscheidung in materielles und immaterielles Kulturerbe. Er nennt den Begriff auch kulturtheoretisch naiv, weil es "nicht um Entweder-Oder, sondern um Sowohl-als-auch" geht. Nach zahlreichen Beispielen und anregenden Gedanken kommt er zu dem Schluss, dass das, was als kulturelles Erbe gilt, doch großer Beachtung wert ist, "… als Symptom…, das uns Veränderungen und Dominanten der kulturellen Stimmung anzeigt und mithin auf tief wurzelnde, meist unbewusste Bedürfnisse verweist."

Der "Heritage-Boom" ist nicht neu. Gunter Bakay bringt als Fallbeispiel aus Theorie und Praxis "Zur touristischen Konstruktion kulturellen Erbes anhand 200 Jahre Tiroler Abend". Bei dieser Erfindung von Tiroler Wanderhändlern und "Nationalsängern" ging es nicht um hehre, idealistische Ziele wie die Bewahrung von Kulturgut, sondern um den Versuch, der Armut in der gar nicht romantischen Bergheimat zu begegnen. Wie im 19. liegen auch im 21. Jahrhundert der Förderung vermeintlicher Traditionen oft wirtschaftliche Interesse zugrunde. Die EU förderte im Rahmen eines LEADER-Projekts die Erhebung überlieferter und neuer Bräuche in der Steiermark. Projektleiter Michael J. Greger referierte seine "Überlegungen zu neuen Bräuchen im Bezirk Liezen". Er betont, dass sich bei neuen Bräuchen (und das gilt sinngemäß auch für die alten) "keine monokausale Deutungskette schmieden" lässt. "Besonders spannend wird es, wenn die 'neuen' Phänomene so weit 'Brauch' geworden sind, dass die 'Erbschaft' weitergeht."

Der Blick über die Grenzen geht in die Schweiz, nach Deutschland, in die Niederlande, nachTschechien, Polen, in die Slowakei und nach Kroatien, nach Amerika, Kanada und Australien. Wie schönes Kulturerbe vermarktet wird, beschreibt Akemi Kaneshiro-Hauptmannn aus eigener Anschauung im Abschnitt "Kulturelles Erbe und Tourismus". Die Japanerin ist Fremdenführerin in Deutschland, wo man mit der Popularität des Weltkulturerbes Besucher aus Fernost anlockt. Reiseveranstalter wählen die Ziele entsprechend der Kundenwünsche, "hauptsächlich nach Größe, Schönheit und Alter" aus. Pauschalreisen bieten den Gästen die Besichtung 20 europäischer Welterbestätten. Wenig überraschend ist das bayrische Schloss Neuschwanstein besonders beliebt. (Rund 1,3 Millionen Menschen jährlich, durchschnittlich 6.000 täglich, drängen sich in der 1869-1884 errichteten Märchenburg.) Auf der anderen Seite stehen "Konzentrationslager als kulturelles Erbe". Peter Egger und Michaela Haibl beschäftigen sich mit dem Problem "unerwünscht erben". Ein breites Themenspektrum entfaltet sich also auf knapp 500 Seiten dieses Buches - wie gesagt, eines nicht nur für Gelehrte.