Dieter A. Binder, Helmut Konrad, Eduard G. Staudinger (Hg.): Die Erzählung der Landschaft#
Dieter A. Binder, Helmut Konrad, Eduard G. Staudinger (Hg.):
Die Erzählung der Landschaft. Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek, Band 34 . Böhlau Verlag Wien Köln Weimar 2011. 196 S., € 35,-
"Empfinden und Erkenntnisse sind immer subjektiv" lautet das Schlüsselwort des Verständnisses der zehn Autorinnen des Sammelbandes. "Landschaft" prägt das Bild von Österreich, nicht nur in der Tourismuswerbung. Hingegen erscheint es den Herausgebern legitim, "einen dekonstruierenden Blick auf die 'Landschaft' zu werfen, um den Blick auf diese etwas freier zu machen".
Der Zeithistoriker Eduard G. Staudinger betrachtet "Grenzen - Grenzziehungen" aus regionalgeschichtlicher Perspektive. Er thematisiert u. a. die Vieldeutigkeit des Begriffes und Vorstellungen wie "wir und die anderen". Der Fall des "Eisernen Vorhangs" und der Prozess der europäischen Integration hat zu einem grundlegenden Wandel der Grenzen geführt. Die "Grenzen in den Köpfen" sind jedoch geblieben, wie der Autor am Beispiel der 100 km langen Staatsgrenze zwischen Steiermark und Slowenien ausführt.
Streckenweise ist die Mur ein Grenzfluss. Mit der topographischen Ambivalenz von Flüssen beschäftigt sich der Kommunikationswissenschafter Rainer Guldin. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die beiden klassischen Interpretationsmuster von Rhein und Donau: "Der Rhein als trennende Grenze und die Donau als verbindendes Band".
Der Regisseur Georg Madeja gestaltet seinen Beitrag "Die Teufelsmauer von Dürnstein" wie einen Fernsehfilm, mit griffigen Texten, Farbbildern der handelnden Personen, wörtlich wiedergegebenen Interviews und Kommentaren. Zur Erinnerung: Es geht um den 1971 geplanten Bau eines Donaukraftwerks in der Wachau, die von einigen Aktivisten, unterstützt von 70.000 Unterschriften aus aller Welt, verhindert werden konnte. Erst 1983 fiel die politische Entscheidung gegen das Projekt.
Der Historiker Thomas Hellmuth gibt seinem Artikel "Die Erzählungen des Salzkammergutes" den Untertitel "Entschlüsselung einer Landschaft". Er teilt ihn in die "bürgerliche", die "proletarische" und die "österreichische" Erzählung. Naheliegend, dass der Blickwinkel jeweils ein ganz anderer ist. Der bürgerliche setzte um 1800 ein, als Naturforscher, Landschaftsmaler und Reiseschriftsteller das Salzkammergut entdeckten und bei den Bauern das "Urwüchsige" suchten. Davon unterscheidet sich die "proletarische Erzählung" ganz wesentlich. Allzu leicht wurden die Salzarbeiter übersehen, die eine selbstbewusste und widerständige Kultur entwickelten, nicht zufällig fanden sich hier besonders viele Protestanten. Schließlich wird die "österreichische Erzählung" kritisch betrachtet.
Die Germanistin Beatrix Müller-Kampel behandelt das Leben von "Jakob Wassermann und Marta Karlweis im Ausseer Land". Der deutsche Schriftsteller Jakob Wassermann (1873-1934) war einer der produktivsten und populärsten Erzähler seiner Zeit. Er kam 1896 erstmals nach Aussee, so wie viele Künstler, Literaten und Vertreter der guten Gesellschaft. Wassermann wählte Aussee zu seinem ständigen Wohnsitz, wo er auch verstarb. Seine zweite Frau, die Psychologin Marta Karlweis (1889-1965) schrieb ebenfalls Romane und hatte schon seit ihrer Kindheit Beziehungen zu dieser Sommerfrische. Beide ließen sich von der Landschaft literarisch inspirieren.
Jakob Michael Perschy leitet die burgenländische Landesbibliothek. Humorvoll und tiefsinnig beschreibt er im fiktiven Dialog mit einem ungarischen Freund "die Erfindung von Pannonien". Als Erfinder kristallisieren sich die "beiden Herren Sebestyén und Sinowatz, beide in erster Linie Denker, in zweiter Linie Schriftsteller der eine, Politiker der andere" zwischen 1965 und 1975 heraus.
Der Zeithistoriker Helmut Konrad philosophiert über "die Weinberge der Steiermark" im Vergleich zu seiner Kärntner Herkunftslandschaft, und er unterstützt die Überlegungen mit etlichen Farbbildern. Die Weinberge bezeichnet er als "Weichzeichner bei den Trennlinien und Emotionen", während in Unterkärnten "die Konfrontation eingeprägt" sei. "Man kann beide Gegenden mögen. Man kann an beiden Gegenden gewisse Elemente schätzen und andere verwerfen …"
Breiten Raum nimmt die Fotodokumentation aus den Beständen der Multimedialen Sammlungen des Universalmuseums Joanneum ein, die in 42 ausgewählten Bildern Straßenbauarbeiten aus den 1950er Jahren zeigt. Deren kulturwissenschaftliche Aufarbeitung stellt "immer noch ein kaum bearbeitetes Forschungsgebiet dar. Diese Lücke gilt es zu füllen," schreibt der Museumsmitarbeiter Heimo Hofgartner.
Der Historiker Dieter Anton Binder referiert über "Dorfgeschichten" von den adeligen Schäferidyllen des Rokoko bis zur Zeitgeschichte eines hypothetischen Kärntner Dorfes. Der letzte Beitrag von Johannes Kassar beschäftigt sich mit dem "Denkmal für die ermordeten Juden Europas". Er tut dies in Form einer Collage aus Zitaten des Architekten Peter Eisenman, des Kunstkritikers Hanno Rauterberg, des Philosophen Michel de Certeau und eigenen Eindrücken.
Die unterschiedliche Zugangsweise des Autorenteams, historische, literaturwissenschaftliche, biografische Aspekte und Variationen von Text- und Bildessays sollen die Konstruktion/Erzählung der Landschaft verdeutlichen. Der angestrebte freiere Blick wird allerdings mit der Beseitigung tradierter Sichtweisen erreicht. Das wird nicht allen Lesern gefallen.