Loris Sturlese (Hg.): Mantik, Schicksal und Freiheit im Mittelalter#
Loris Sturlese: Mantik, Schicksal und Freiheit im Mittelalter. Unter redaktioneller Mitarbeit von Katrin Bauer. Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, Band 70. Herausgegeben von: Karl Acham, Günther Binding, Egon Boshof, Wolfgang Brückner, Kurt Düwell, Klaus Herbers, Gustav Adolf Lehmann, Helmut Neuhaus und Michael Schilling. Verlag Böhlau
2011, 204 S. € 41.10
Mittelalterliches hat Konjunktur und Magisches boomt. Das Mittelalter, jene lange Periode der europäischen Geschichte zwischen Antike und Neuzeit (ca. 6. bis 15. Jahrhundert) ist zur "Trend-Epoche" geworden. Magische Welten finden sich in Kinos, Spielen und Publikationen. Anhänger des "richtigen Augenblicks" laut Mondkalender oder der Hildegardmedizin verfolgen im 21. Jahrhundert Traditionen, die im 12. und 13. wurzeln. Dem Interesse entspricht das Angebot des Buchmarkts an pseudo-mittelalterlicher und -magischer Literatur. Damit hat dieses Buch gar nichts zu tun, es handelt sich um einen wissenschaftlichen Tagungsband.
2009 beschäftigte sich ein internationales Forschungskolleg von Philosophen, Historikern und Philologen mit "Schicksal, Freiheit und Prognose". Die Ergebnisse und Referate fasste Loris Sturlese im Band "Mantik, Schicksal und Freiheit im Mittelalter" zusammen. Der Herausgeber ist Professor für Philosophie des Mittelalters und Direktor des Istituto Superiore Universitario di Formazione Interdisciplinare der Universität Lecce, Italien.
Mantik, die Kunst der Zukunftsvorhersage, zeigt Verbindungen zu Magie, Astrologie und Medizin. Die Quellen verweisen auf arabische und antike Ursprünge. Die von der Kirche als Aberglaube (Superstitio) verbotenen Praktiken waren weit verbreitet. Das Buch betrachtet sie in ihrem historischen Kontext. Der Begriff "Schicksal" wurde eng mit dem Astraldeterminismus verbunden. Doch sollte der Mensch die Freiheit haben, diesem durch seine eigenen Entscheidungen zu entkommen.
Der erste Beitrag des italienischen Philosophen Stefano Caroti widmet sich der Entwicklung der Astrologie im Mittelalter. Die Kirchenväter bewerteten diese negativ, weil sie sie als den heidnischen Kulturen der Sternenanbetung zugehörig erklärten. Gratian, der Vater der Kanonistik, setzte um 1140 Astrologie, Magie und dämonisches Wirken gleich. Im 13. Jahrhundert verwies der Kirchenlehrer Thomas von Aquin, einer der einflussreichsten Philosophen und Theologen, jedoch auf die Anwesenheit der Engel als Führer der Sternenbewegung und widersprach damit der These vom heidnischen Ursprung des Astraldeterminismus. Schon zu seiner Zeit kursierten Handbücher über den "richtigen Augenblick" zum Zähneziehen, Haareschneiden oder Wallfahren.
Die Verfasser der folgenden Beiträge referieren die Besonderheiten verschiedener geographischer Räume: Der spanische Religionsphilosoph Alexander Fidora beschäftigt sich mit der "Schule von Toledo" für die mantischen Disziplinen, über die es im 12. Jahrhundert hieß: "In Paris suchen die Gelehrten die sieben freien Künste … in Bologna das Recht, … und in Toledo die Dämonen." Der Autor meint aber, dass die damaligen Wissenschaftler das Thema "recht nüchtern und zudem sehr abstrakt" abhandelten, erst "Das 13. Jahrhundert scheint diese Ansätze begierig aufzugreifen und zugleich auszuschmücken."
Der Herausgeber schreibt über "Thomas von Aquin und die Mantik", ein bisher von der Forschung eher vernachlässigtes Thema. Der Dominikaner Thomas von Aquin (um 1225 - 1274) war einer der einflussreichsten Philosophen und Theologen der Geschichte. Er gehörte zu den bedeutendsten der 33 katholischen Kirchenlehrer und wurde 1323 heilig gesprochen.
Die italienische Philosophie-Historikerin Alessandra Beccarisi behandelt die Verurteilung der Geomantie, die 1277 als ketzerisch galt. Diese Praxis der Weissagung, die in der Interpretation von zufällig auf Sand gezeichnete Punktreihen bestand, war damals bei gebildeten Leuten sehr verbreitet. "Die Botschaft, die sich hinter den Wahrsagekünsten verbirgt, besteht darin, dass der Mensch dem Schicksal entgehen kann. Die Bedingungen des Schicksals genau zu kennen, erlaubt es dem Menschen, die geeigneten Mittel zu finden, diesem gegenüber zu treten," erklärt die Autorin.
Der deutsche Geisteswissenschaftler Thomas Ricklin gibt unter dem Titel "Dante zwischen Zauberern und Divinatoren" dann "einige möglicherweise nicht nur prosaische Hinweise zu Inferno XX". Der Divination als Praxis steht eine durchgehende Tradition ihrer Zurückweisung gegenüber. Die kirchliche Ablehnung kann sich auf das 5. Buch Mose (Dtn 18, 10-12) aus dem ersten vorchristlichen Jahrtausend berufen. Allerdings konnte dies der Erfolgsgeschichte der Astrologie im lateinischen Europa ab der Mitte des 12. Jahrhunderts keinen Abbruch tun.
Die deutsche Wissenschaftshistorikerin Kathrin Bauer schlägt im abschließenden Beitrag den Bogen zur Neuzeit. Unter dem Titel "Keplers Tertius Interveniens von 1610 im Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlichem Anspruch und höfischem Interesse" untersucht sie, was Johannes Kepler (1571-1630) in der Astrologie für seriös und wissenschaftlich nutzbar fand. Der Naturphilosoph, Mathematiker, Astronom, Optiker und evangelische Theologe lehrte u. a. in Graz und Linz. 1601 bis 1612 war diente der Gelehrte als kaiserlicher Hofmathematiker den Habsburgern Rudolf II., Matthias I. und Ferdinand II. In Prag erlebte er die produktivste Phase seines wissenschaftlichen Schaffens. "Die Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Astrologie wurde im 17. Jahrhundert vielfach erörtert und hängt eng mit der eigenen Weltanschauung Keplers zusammen "", schreibt Bauer und fasst zusammen, dass der Gelehrte die Astrologie als Wissenschaft begriff: " Sie sollte auf Erfahrungswerten basieren und die zugrunde liegenden Theorien sollten intersubjektiv nachprüfbar sein. Weiterhin plädierte er dafür, Vorhersagen eher allgemein zu halten, da der Einfluss der Himmelskörper nicht allein bestimmend für die individuelle Zukunft eines Menschen sei." Johannes Kepler war aber nicht nur Gelehrter, sondern auch Höfling. Die höfische Gesellschaft bildete die wichtigste öffentliche Sphäre für die Anerkennung wissenschaftlicher Inhalte. Wie sein prominenter italienischer Kollege Galileo Galilei (1564-1642) baute sich auch Kepler ein Netzwerk persönlicher Verbindungen auf nützte seine Verbindungen zum Kaiserhof. Ferdinand II. empfahl ihn Wallenstein, dem Oberbefehlshaber der kaiserlichen Streitkräfte im Dreißigjährigen Krieg, der seine Versorgung sicherte. Kepler hatte dem Generalissimus schon in jungen Jahren ein Horoskop erstellt, von dem dieser sehr beeindruckt war. Nach einiger Zeit bestellte er ein zweites. Die neue Prophezeiung enthielt eine ernsthafte, wenn auch nicht näher ausgeführte Warnung für den Beginn des Jahres 1634. Am 25. Februar 1634 wurde Wallenstein ermordet.