Sabine Pollak (Hg.): Die Freuden des Landlebens. Zur Zukunft des ruralen Wohnens#
Sabine Pollak (Hg.): Die Freuden des Landlebens. Zur Zukunft des ruralen Wohnens. Mit Beiträgen von Anja Aichinger, Clemens Bauder, Miriam Brandstetter, Peter Höbarth, Roland Köb, Claudia Leitner, Isabella Marboe, Thomas Philipp, Sabine Pollak, Florian Sammer, Klaus M. Scheibl, Verena Schoißengeyr, Katja Seifert, Walter Stelzhammer, Karoline Streeruwitz, Jan Tabor, Robert Temel, Ute Woltron und Andre Zogholy. Sonderzahl Verlag Wien 2011. 360 S. € 29,–
Die "Freuden des Landlebens" waren und sind Sache der Städter. Für die Bauern bedeutet(e) Landleben harte Arbeit, oft Kampf um das Überleben. An der Wende zum 19. Jahrhundert begannen Intellektuelle und Idealisten aus der Stadt, sich für Entdeckung von Land und Leuten zu interessieren. Bürger suchten die unverdorbene Natur wie auch "uralte Bräuche", sie erschlossen die Berge und erfanden die Sommerfrische. Bis in die Gegenwart sind es die Zugereisten, die verfallende Bauernhöfe revitalisieren, mit Respekt vor dem Alten und Mut zum Neuen. Die Ansässigen wohnen nicht in einem Haus, das an die schwere Vergangenheit erinnert. Der Zeitgeist der Romantik, die Suche nach der Gegenwelt zur später so genannten "Unwirtlichkeit der Städte" spiegelt sich noch nach zwei Jahrhunderten in Tourismusbroschüren. Kritische ArchitektInnen sprechen vom "Wochenendblick", "Konstrukt des Ländlichen" und "Zivilisationsflucht". Ihre Zunft hat sich mit dem Leben auf dem Land weit weniger beschäftigt als mit jenem in der Stadt. "Der Fortschritt von Architektur wird bis heute an urbanen Fiktionen gemessen … das Wohnen am Land überlässt man hingegen mehr oder weniger sich selbst. … Dabei wären gerade unter ruralen Bedingungen grundlegende Fragen weitaus schärfer, da brisanter zu stellen," schreibt Sabine Pollak im Vorwort zu ihrem Buch " Die Freuden des Landlebens". Die Fragen bleiben nicht auf die Architektur beschränkt. Daher ist das vorliegende Werk, an dem 20 Autoren und Autorinnen unterschiedlicher Disziplinen mitgewirkt haben, gedacht als "Sammlung aus Fakten und Fiktivem, Berichten und Erzählungen, Best-Practice-Beispielen und Prototypen."
Aus einem Projekt der Wohnbauforschung des Landes Niederösterreich ist ein anregendes Buch entstanden, das nicht nur durch seinen Inhalt, sondern auch durch die Aufmachung Beachtung verdient. Im Querformat, etwas größer als A5, vereint es vielsagende Texte, Bilder und Skizzen. Außer Vorwort und Anhang gliedert es sich in sechs große Kapitel.
Es beginnt mit Zahlen, Daten und Fakten, Entwicklungen und Prognosen. Dabei versteht Anja Aichinger, die das Layout des Buches entworfen hat, trockene Statistiken in bunte Bilder zu verwandeln. Ein Bild sagt bekanntlich mehr als tausend Worte. Aichinger verfasste auch das folgende Kapitel "Interviews". Kompetent und unvoreingenommen führte die Architektin Gespräche mit Experten, die in Österreichs größtem Bundesland an den Hebeln des Wohnbaus bzw. dessen Förderung sitzen: Raum- und Stadtplaner, Bürgermeister, Institutionen-Vertreter. Die Kernsätze sind, betont durch Fotos, grafisch hervorgehoben. Etwa: "Das familiäre Zusammenleben im Kinderzimmer funktioniert, bis die jungen Menschen 16, 17 sind. Mit 18 beginnt es, problematisch zu werden, mit 20 ist es ein Problem." (Bürgermeister), "Oft bauen junge Leute, … obwohl sie es sich nicht leisten können. Oft geht schon in der Bauphase die Ehe in Brüche. Und die Häuser fallen dann an die Banken zurück." (Bürgermeister). "Der Flächenwidmungs- und Bebauungsplan muss weg von den Gemeinden … das würde dem Wohnbau viel Qualität bringen." (Bauträger).
Werden schon in den acht Interviews Probleme der (und mit den) Häuselbauer angesprochen, so bietet der dritte Abschnitt dazu die Theorien. Den ersten Beitrag dieses Kapitels nennt Sabine Pollak "Utopische Landversuche". Ihr überaus interessanter Überblick beginnt mit Thomas Morus' Inselutopie aus dem 16. Jahrhundert, führt zur Reformbewegung "Monte Verità" um 1900, Otto Mühls Kommune "Friedrichshof" in den 1970ern, gleichzeitig entstandenen partizipativen Modellen für Familienhäuser in Österreich und zur amerikanischen Wüstensiedlung Arcosanti, an der seit 40 Jahren gebaut wird. Sie alle sind nicht in der Stadt beheimatet, sondern benötigten den ou topos, das leere Feld, den offenen Horizont, die Weite der Landschaft und vor allem: Grün. Den ruralen, ökologisch orientierten Lebensstilexperimenten steht die Realität der unkontrollierbaren Zersiedelung (Urban Sprawl, Sprawling, Dispersion der Siedlung) entgegen. "Man wünscht sich die Einsamkeit der freien Natur, … möchte jedoch auf keinen Komfort verzichten", kritisieren ArchitektInnen, und sehen Sprawling in Zusammenhang mit steigendem Wohlstand und der Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte. Ihre Utopien: "Wohngemeinschaften im Grünen, Gruppenwohnen zwischen Feldern, flexibles Wohnen und Arbeiten in ehemaligen Dorfzeilen, Andockstellen für kurzzeitige Landaufenthalte, entfesselte Wohnkonzepte für Generationen". Robert Temel, Architekt und Spezialist für partizipativen Wohnbau, analysiert internationale Beispiele im Hinblick auf zukünftige Projekte in Niederösterreich. Thomas Philipp und Andre Zogholy betrachten die Wohnungspolitik für den ländlichen Raum aus dem Blickwinkel der Soziologen. Dabei zeigt sich, "dass die in der klassischen Stadt- und Raumsoziologie herausgeformte Theorie des Stadt-Land-Gegensatzes spätestens in den 1960er Jahren in den westlichen Industriestaaten zu bröckeln begann." Mehr Unterschiede als zwischen Stadt und Land machen Lebensstile, soziale Milieus und Wohnmilieus aus, die der Beitrag vorstellt. Sie sollten bei der Wohnungspolitik und Wohnraumplanung im ländlichen Raum mehr in Betracht gezogen werden, betonen die Autoren. Im "globalen Dorf" lösen neue Technologien die realen Räume auf. Wenn Arbeit und Freizeit "entortet" stattfinden, ist unerheblich, ob in der Stadt oder auf dem Land. Zunehmend wichtiger wird auch der Wandel der Familienstrukturen, mit mehr Einpersonenhaushalten, Alleinerziehenden, Patchworkfamilien und alten Menschen. Isabella Marboe, Architektin und Journalistin, besuchte neue Häuser in Niederösterreich und fragte die Bewohner und Bewohnerinnen, ob sich ihre Konzepte bewährt hätten. Die Antwort war in 6 von 7 Fällen ein klares Ja, auch wenn sich die Bedürfnisse geändert haben, ein Fallbeispiel ist ein unbewohntes "Model Home". Die Architekturkritikerin Ute Woltron gibt, obwohl Profi, einen subjektiven Erfahrungsbericht darüber, wie sehr sich das Wohnen am Land seit den 1970er Jahren verändert hat. Ihre Vision: "In einer idealen Zukunft erhält sich das Land seine natürlichen, wilden Teile, kultiviert seine Agrarzonen auf nachhaltige Art und Weise und verfügt über enge soziale Netzwerke…" Der letzte Beitrag dieses Teils stammt vom Architekten und "Grenzgänger" Jan Tabor. In eigenwilliger Weise beschreibt sein Traktat die Regionen zwischen Niederösterreich, der Slowakei und Tschechien.
Kapitel 5 präsentiert fünf "Beispiele", die prototypisch für eine veränderte Auffassung vom Wohnen am Land stehen: die Wohnhausanlagen Lewischgasse (Langenlois) und Orasteig (Wien-Floridsdorf), Betreubares Senioren-Wohnen in Langenlois und Spillern und das (gescheiterte) Konzept der Kremser Vorstadt Lerchenfeld. Noch einen Schritt weiter gehen sieben Projekte, die den Ausblick auf die Zukunft des ruralen Wohnens eröffnen. Der Anhang listet die Akteure im niederösterreichischen Wohnbau auf und bietet eine Fülle von Kontaktadressen bezüglich Vorschriften, Normen, Förderungen, Hilfsangebote, Gestaltung, Ökologie, Finanzierung und Bauträger. Biographien der Autoren und Autorinnen runden den empfehlenswerten Band ab.