Marius Risi (Hg.): Alpenland#
Marius Risi (Hg.): Alpenland. Terrain der Moderne. Mit Beiträgen von
Thomas Antonietti, Burkhart Lauterbach, Nikola Langreiter, Robert Kruker und Cordula Seger. Waxmann Verlag Münster 2011. 120 S., 19,90 €
Vor zwei Jahren fand in Chur (CH) eine internationale Tagung unter dem Titel "Wohin des Wegs? Positionen der kulturwissenschaftlich-ethnologischen Alpenforschung" statt. Experten aus drei verschiedenen (Alpen-)Ländern befassten sich unter anderem mit den Auswirkungen des Tourismus auf das alltägliche Leben in den Bergtälern und dem soziokulturellen Wandel in der Berglandwirtschaft.
Österreich war durch die Kulturwissenschaftlerinnen Nikola Langreiter (Universität Innsbruck) und Cordula Seger (Universität Wien) vertreten. Langreiter präsentierte Forschungserfahrungen aus zwei Spannungsfeldern, die für die soziale Praxis im touristischen Tirol bestimmend sind: das Verhältnis zwischen Wandel und Kontinuität sowie zwschen Arbeit und Nicht-Arbeit. Dabei spielt auch der neue Typ der "Ski-Bums" eine Rolle. Ski Bums sind junge Leute, die einige Jahre nur für das Skifahren und Snowboarden leben. Den Winter verbringen sie in einem Skigebiet und finanzieren ihren Aufenthalt durch Jobs in Restaurants, Bars oder Sportgeschäften. Mit "normalen" Wintertouristen haben sie wenig gemeinsam. Häufig erzeugt die Tourismusindustrie in "Sehnsuchtslandschaften" gerade jene Strukturen, denen die Gäste entgehen wollen. Auf Wanderwegen begegnen sie dem "Histourismus", und in vermeintlichen Reliktgebieten der "invention of tradition". Vor einem Jahrhundert priesen Reiseführer das Zillertal als "wildromantisch" und seine Bewohner als "frisch, geradeaus und doch freundlich". Wie im Tourismus, würden auch in der Volkskunde die Alpen als "Hort überlieferungsgebundenen Volkslebens" geschätzt, beobachtete die Forscherin. 1998 veranstaltete sie eine Exkursion mit Wiener Studierenden auf Almen im Zillertal und im Bregenzerwald, wo sie "Erlebnis-Sennerei" zu sehen bekamen. Im Zillertal hingegen brachten strengere Vorschriften nach dem EU-Beitritt Österreichs viele Almwirtschaften zum Erliegen.
Cordula Seger referierte über Alpen-Architektur im Dienst des Tourismus. In ihrem Beitrag zitiert sie den Architekturkritiker Friedrich Achleitner: "Die ländliche Armut eignete … besonders gut zur Entspannung der Städter. Und diese erlebten … als Schock, dass der Tourist die Welt, die er entdeckt, in die er eindringt, und die er auch liebt, gleichzeitig zerstört." Seger vergleicht die im 19. Jahrhundert entstandenen Grand Hotels in den Alpen mit gestrandeten Ozeandampfern: Urban, repräsentativ, luxuriös. Einen optischen Gegentrend bildeten die Chalets, doch diese "Schweizerhäuser" kamen vorgefertigt aus der Fabrik. Auch spätere Entwicklungen verhießen nichts Gutes: "Im Versuch, dieses Dilemma zwischen Tradition und zeitgenössischem Anspruch zu überbrücken, entstand eine von den Unbequemlichkeiten und Unwägbarkeiten des Ursprünglichen und Angestammten geläuterte Sehnsuchtsarchitektur, die je nach Lage und Erdteil zum Vorbild für Feriendörfer im Heidi- bis zum Pueblostil wurde" , schließt Cordula Seger.
Der deutsche Kulturwissenschaftler Burghart Lauterbach beschäftigt sich mit der Wirkung des Tourismus auf die ortsansässige Bevölkerung. Während Tourismusforschung weit gediehen ist, fehlt die "Bereistenforschung" noch weitgehend. "Die bereisten Einheimischen sind aktive oder passive, in unterschiedlichem Maß engagierte oder betroffene Akteure im touristischen Geschehen." Nach ihrem Grad des Kontakts zu den Gästen lassen sich die freiwilligen oder unfreiwilligen Gastgeber in fünf Gruppen einteilen. Nicht alle sehen im Tourismus ein ökonomisches Problemlösungsmittel für bisher rückständige Regionen. Es gibt auch verschiedene Strategien des Widerstands, wie Verstecken, Abschirmen, Aggression oder organisierten Protest. Alles Versuche, die eigene Selbstachtung und Identität zu wahren oder wieder zu gewinnen. Dabei spielen auch Rituale eine Rolle, bei denen man nicht beobachtet oder fotografiert werden will. Jedenfalls findet "die Europäische Ethnologie als historisch argumentierende, gegenwartsbezogene Kulturwissenschaft" im Thema "Hosts and Guests" oder "Kulturkonflikte und Kulturkontakte" ein weites Forschungsfeld.
Die Sachkulturforschung, die archivalische Quellenforschung oder die qualitative Sozialforschung bieten gute Möglichkeiten, die Ethnologie in den Alpen auf der Basis des vorhandenen Materials weiterzuschreiben und auf gegenwärtige gesellschaftliche Phänomene hin zu befragen, stellt der Schweizer Ethnologe und Konservator Thomas Antonietti fest. Sein Beitrag zeigt, wie sehr Zuschreibungen auf die soziale Realität einwirken und so ihrerseits zu einem Bestandteil dieser Realität werden. Als Beispiel der Sachkulturforschung führt er zum Thema Tracht aus, dass dieses "Traditionsgut" eigentlich "ein Kind der Industrialisierung ist." Typische Trachtenbestandteile wurden für die Bevölkerung erst im 19. Jahrhundert erschwinglich, als Textilfabriken die industrielle Fertigung übernahmen. Ein anderes Beispiel sind die Schnitzer und Träger von Fastnachtsmasken. Sie unterscheiden sehr genau, ob sie, wie Väter und Großväter, einen traditionellen Umzug machen oder einen folkloristischen. Phänomene, die vom Forscher als Rollenwechsel und multiple Identität beschrieben werden. Forschungsinhalt ist auch der Kunstschnee, der dabei ist, den alpinen Raum grundlegend umzugestalten. So verfügt ein einziges Schweizer Schigebiet über 161 Schneekanonen, die 17 km Piste beschneien. Dies verändert nicht nur die Natur, die zu einer Freizeitkulisse der Erlebnisgesellschaft wird, sondern auch das Leben der Einwohner, die anstelle der Landwirtschaft neue Berufe ergreifen.
In der Schweiz nimmt die Zahl der Bergbauern ab und die Bürokratisierung zu. Mit dem Wandel beschäftigt sich der Publizist Robert Kruker unter dem Titel "Alpinavera, Stiefelgeissen und Golflandschaften". Bergbauern versuchen, als lokale Gemeinschaften auf globale Märkte zu reagieren. Wie Alpinavera, eine Dienstleistungs- und Marketingorganisation für Produkte aus Landwirtschaft und regionalem Handwerk. Als "echt alpinische Spezialitäten" etikettierte Produkte bringen den Bauernfamilien mehr Einkommen. Manche Nutztierzüchter haben sich von den Hochleistungsrassen verabschiedet und halten alte, lokale oder aus anderen Kontinenten importierte Weidetiere, wie Geissen, Rinder, Lamas oder Yaks. Schließlich sind viele Golflandschaften entstanden, die größte in Andermatt mit 140 ha. Dafür mussten landwirtschaftliche Betriebe abgesiedelt werden oder gaben überhaupt auf. "Inwieweit gibt es den freien Bauern - den einst besungenen pur suveran - heute noch ?" fragt der Autor und hofft, dass es gelingt, die Herausforderung, "das Lokale und das Globale auf eine gute Art zu verbinden."