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Robert Büchner: Tiroler Wanderhändler#

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Robert Büchner: Tiroler Wanderhändler. Die Welt der Marktfahrer, Straßenhändler und Hausierer. Tyrolia-Verlag Innsbruck - Wien 2011. 400 S., 96 farb. u. 29 sw. Abb., € 29,95

Seit dem Mittelalter versorgten Wanderhändler die Bewohner abgelegener Gebiete mit Waren, die für jene sonst unerreichbar geblieben wären. Als "Draufgabe" erfuhren sie von den weit Gereisten Neuigkeiten aus der Fremde. Manchmal waren die umherziehenden Krämer besser sortiert und billiger als die ansässigen. Diese hetzten bei der Obrigkeit gegen die unliebsame Konkurrenz. Verbote und Beschränkungen blieben nicht aus - aber meist wirkungslos.

Drei Jahrhunderte hindurch - von ca. 1600 bis 1900 - waren Händler aus den wirtschaftlich benachteiligten Tiroler Tälern quer durch Europa, auch darüber hinaus, unterwegs. Die Begriffe Tiroler und Hausierer wurden synonym verwendet, noch 1882 waren fast 6500 Männer, Frauen, Jugendliche und auch Kinder in diesem Beruf tätig. Ihnen widmet der Historiker Robert Büchner, Professor an der Universität Innsbruck, ein reich illustriertes, spannendes Buch. Erfreulicherweise beschränkt sich die historische Darstellung nicht auf Tirol, sondern bezieht viele benachbarte Gebiete ein. Büchner erhellt den Alltag der Wanderhändler, erklärt die wirtschaftlichen und geschichtlichen Hintergründe und verhehlt nicht eine gewisse Sympathie für die Kraxenträger, über die ihre Zeitgenossen klagten, dass sie "wie die Heuschrecken über alle Länder herfielen".

Die Kritik an den Buckelkrämern ist so alt wie ihre Profession, die einen zum Überleben notwendigen Nebenerwerb darstellte. Bei den Tirolern waren es vor allem die Deferegger, Stubai- und Lechtaler, Grödner (um 1600), Imster (um 1655), Zillertaler (1685), Fersentaler und Val Tesiner (18. Jahrhundert). Männer aus der klein- und unterbäuerlichen Schicht begaben sich als Erste auf saisonale Wanderungen mit Waren aller Art. Oft mussten Frauen und Kinder die kleine Landwirtschaft daheim versorgen. Karger Boden, wachsende Bevölkerung, Besitzzersplitterung im Realteilungsgebiet, Rückgang des Bergbaus, Inflation und Konjunkturflauten zwangen die Tiroler, sich einen (Neben-) erwerb zu suchen. Sie begannen mit in Heimarbeit erzeugten Artikeln und erkannten bald, dass der Handel mit Fremderzeugnissen profitabler war. Teilweise bezogen sie die Waren auf Kredit, oder im Ausland. Später bildeten sie gemeinsame Warenlager und Handelsgesellschaften, aus denen internationale Handelshäuser entstehen konnten.

"Es gab kaum einen Artikel, sofern er nur handlich, tragbar und nicht zu schwer war, mit dem Tiroler und Tirolerinnen nicht hausiert hätten," schreibt Robert Büchner. Er nennt "die Deferegger mit ihrer Teppichen (Decken), die Zillertaler mit Olitäten und Handschuhen, die Grödner mit geschnitzten Figuren, Spielwaren und geklöppelten Spitzen, die Imster mit Kanarienvögeln, die Val Tesiner mit Bildern und Stichen, die Fersentaler mit Hinterglas- und Spiegelbildern …" Doch das waren nur die typischen Waren. Jeder Händler versuchte, ein möglichst breites Sortiment anzubieten. Unter ihnen gab es gewisse Hierarchien. Die meisten legten hunderte Kilometer zu Fuß mit einem auf dem Rücken getragenen Behältnis zurück. Besser gestellt waren jene, die mit einem Schubkarren oder zweirädrigen Wagen unterwegs waren, vor den sie eine Ziege oder einen Hund spannten. Wer es sich leisten konnte, hielt sich ein Saumtier (Pferd, Esel, Maultier). Über ihm stand der landfahrende Händler, der mit Pferd und Wagen seinen Geschäften nachging. Doch das war unter Maria Theresia nur für den Fernhandel erlaubt.

Unterschiedlich waren auch die Einnahmen, abhängig von der Art der Ware. Verkäufer alltäglicher Bedarfsartikel mussten sich mit jährlich 30 Gulden zufrieden geben. Das bescheidene Einkommen erreichten sie nur durch sparsames Leben während der Geschäftsreise und mithelfende Familienangehörige. Wer hingegen Manufakturwaren, feine Textilien, Schmuck oder Gewürze anbot, konnte reich werden. Prächtige Häuser in Lechtaler Dörfern geben Zeugnis vom erworbenen Wohlstand.

Der Autor hat in akribischer Recherche viele Details zutage gebracht und systematisch zusammengefasst. Teil I. beschäftigt sich mit dem Wanderhandel in Europa, besonders in Deutschland. Eines der ältesten Zeugnisse über das Hausieren stammt aus Bozen. Dort wurde 1239 angeordnet, Leinen (wahrscheinlich aus Schwaben) dürfe nur auf dem Markt, aber nicht von Haus zu Haus vertrieben werden. Darstellungen von Kaufrufen - die Händler machten mit bestimmten Sprüchen und Melodien lautstark auf sich aufmerksam - sind schon auf Holzschnitten um 1500 zu sehen. Um 1770 schuf Johann Christian Brand die berühmte Kupferstichserie der Wiener Kaufrufe. Es war die Zeit, als Maria Theresia zwecks besserer Kontrolle "Hausierpässe" einführte.

Teil II. widmet sich dem Wanderhandel in Tirol und den Tirolern im Ausland. Hier lernt man Schotten, Niederländer, Savoyen und Welsche, Krainer und Gottscheer sowie "Abenteurer" kennen, Händler, die Mut zum Risiko zeigten und u.a. im 15. Jahrhundert Adelige mit Edelsteinen belieferten. Andererseits werden die Zillertaler Ölträger und Handschuhhändler, die Deferegger Teppichhändler, Grödner Bildschnitzer und Spitzenhändlerinnen, Stubaier Eisenwarenhändler und Imster Vogelhändler vorgestellt. Händler mit Bildern und Büchern kamen aus dem Tesinotal in Südtirol, auch die deutschsprachigen Bewohner des Fersentals verkauften Heiligenbilder. Die Pflerschler versuchten sich ab 1700 im Hausiergeschäft u.a. mit Stoffen und Skorpionöl, einem Allheilmittel für Mensch und Vieh. Die größte Zahl an Wanderarbeitern kam aus dem Oberinntal und Lechtal. Tausende werkten auswärts als Bauarbeiter, viele verlegten sich auf den Wanderhandel. Wie manch andere gingen sie nach dem Verkauf ihrer Dinge nicht leer zurück, sondern nahmen Spezialitäten der besuchten Orte mit, die sie auf dem Rückweg oder zu Hause absetzen konnten, in diesem Fall Kolonialwaren aus dem Engadin.

Zu den Produkten der Tiroler zählten u.a. Textilien - 1838 waren Baumwollartikel die umsatzstärkste Ware im Hausierhandel -, Glas, Geschirr, Lebensmittel wie Butter und Käse, Fastenspeisen, Brot, Wurst, Obst und Südfrüchte, Branntwein, sowie Arzneien, Schachtelhalm zum Reinigen des Zinngeschirrs, optische und physikalische Instrumente, Gipsfiguren, Parfum und kosmetische Artikel. Aufkäufer und Verkäufer der untersten Stufe waren jene, die mit dem Fell von Hasen und Kaninchen, Maulwürfen und Katzen handelten, nicht selten ein Zuverdienst von Dienstmädchen.

Die Wanderhändler wurden nicht nur von den Geschäftsleuten stets als Konkurrenz betrachtet. Sie mussten auch unter ihresgleichen auffallen. Tracht und Dialekt, gespielte Grobheit oder Naivität dienten als Markenzeichen der Tiroler. Manche traten in Phantasietrachten vor Regenten als "Salonjodler" und "Volkssänger" auf. Einige waren ausgesprochene "Originale", wie der Zillertaler Peter Prosch (1744-1804), der schon als Bub mit Handschuhen und Hüten handelte und sich später nicht scheute, den Spaßmacher zu spielen, wobei die Adeligen derbe Scherze mit ihm trieben. Er schrieb seine Autobiographie, wurde schließlich als Wirt und Branntweinbrenner einer der reichsten Männer in seinem Heimatdorf Ried im Zillertal. Andere versuchten, als geschickte Verkäufer, aufdringliche Straßenhändler oder Marktschreier ihr Glück zu machen. Zu dieser Kategorie zählten die fahrenden Ärzte. Man fühlt sich an den Quacksalber Dulcamara erinnert, der in der komischen Oper "Der Liebestrank" von Gaetano Donizetti (1797–1848) Wunderdinge von seinem teuren aber wirkungslosen Mittelchen erzählt.

Industrialisierung, neue Transportmittel und verbesserte Infrastruktur machten den Wanderhandel obsolet. Redensarten wie "Handel und Wandel" oder "Kauf ist Lauf" erinnern daran.