Helge Gerndt: Wissenschaft entsteht im Gespräch#
Helge Gerndt: Wissenschaft entsteht im Gespräch. Dreizehn volkskundliche Porträts. Waxmann Verlag Münster, New York, München, Berlin 2013. 168 S., € 24,90.
Über Tote soll man nur Gutes sagen, meinte einer der sieben Weisen der griechischen Antike, Chilon von Sparta, im 6. vorchristlichen Jahrhundert. Der em. Münchener Ordinarius für Volkskunde, Helge Gerndt, schreibt hier nicht nur über Tote, zeichnet aber wohlwollend 13 Porträts seiner Fachkollegen, die auch für Österreich wichtig sind. Unter anderen von Hans Moser (1903-1990), Karl-Sigismund Kramer (1916-1998), Rolf Wilhelm Brednich
(* 1935), Martin Scharfe (* 1936), Ingeborg Weber-Kellermann (1918-1993), Leopold Kretzenbacher (1912-2007) und Günter Wiegelmann (1928-2008).
Das Buch erschien zum 50-jährigen Bestehen der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde und des Instituts für Europäische Ethnologie, dessen Ordinarius der Autor von 1980 bis 2004 war. Es versammelt Würdigungen für Repräsentanten der Kulturwissenschaft, die er zu aktuellen Anlässen während eines Vierteljahrhunderts verfasste. Zielsetzung ist eine Momentaufnahme, die sich facettenartig entfaltet und das Interesse an wissenschaftlichen Fragen und Zugängen der Europäischen Ethnologie weckt. "Es möchte eine Denkhaltung vermitteln, die wissenschaftliches Tun als ein Generationen übergreifendes Gespräch versteht, das zwischen Inspiration, Reflexion und Kontemplation oszilliert, das in Lebensalltage eingebettet ist und uns mit Einsicht und Verständnis bereichert."
Wie schon aus dem Titel ersichtlich, spielt dabei das Gespräch eine wichtige Rolle. Das Buch zeigt anhand des Lebenswerks der geehrten Gelehrten, wie sich Alltagskultur und Alltagsleben durch methodisches Fragen in einen wissenschaftlichen Gegenstand verwandeln. So erörtert es Aspekte volkskundlicher Fachgeschichtsschreibung und zeigt kulturwissenschaftliche Denkwege und Arbeitsweisen an der Schwelle des dritten Jahrtausends.
Hans Moser, dem ältesten, ist die erste Rede gewidmet. Er zählt zu den wenigen wissenschaftlichen Autoritäten der Volkskunde nach dem 2. Weltkrieg und ist für seine theoretisch fundierten und an historischen Methoden orientierten Forschungen zur Brauchgeschichte bekannt. So widerlegte er die Vorstellung von "uralten Kontinuitäten" durch Analysen der Entwicklung der Alltagskultur seit dem 15. Jahrhundert. Weit über die Fachgrenzen hinaus üblich geworden ist der von Hans Moser geprägte Begriff "Folklorismus". Die Laudatio "Quellenforschung und wissenschaftliches Ethos" hielt Gerndt 1985, als der inzwischen 82-Jährige Hans Moser ein Buch über seine gesammelten Forschungen aus einem halben Jahrhundert präsentierte.
Karl Sigismund Kramer vertrat ebenfalls die historisch-quellenkritische Perspektive der Münchener Schule. Historische Alltagskultur bildete das Fundament seines Forschens, zuletzt noch 1995 publiziert, über Ausdrucksformen mittelalterlicher Standesgliederung. Sein "Grundriss einer rechtlichen Volkskunde" zählt zu den Standardwerken. "Wissenschaft braucht, so lernen wir bei Kramer, Geduld und Stetigkeit und den Mut zum unkonventionellen Entwurf", schreibt Gerndt. "Sie bedarf des Augenmaßes wie der Leidenschaft und der Offenheit für das kritische Gespräch ebenso wie der Bereitschaft zur selbstkritischen Besinnung."
Rolf Wilhelm Brednich ehrte der Autor zum 60. Geburtstag und nannte die Laudatio "Arbeit am kollektiven Gedächtnis". Brednich ist einem breiten Publikum durch seine Sammlungen sagenhafter Geschichten bekannt. "Die Spinne in der Yucca-Palme" oder "Das Huhn mit dem Gipsbein" nennt Gerndt "heute wohl das bekannteste volkskundliche Werk überhaupt". Die modernen Sagen erschienen in einer Auflage von 680.000 Exemplaren und in mehreren Sprachen. Brednich beschäftigte sich mit der Geschichte der Massenmedien (vom Bänkelsang bis zu den Comics), eröffnete früh neue Forschungstrends und gab u. a. die Enzyklopädie des Märchens und die Internationale volkskundliche Bibliographie heraus.
Fast ein Jahrgangskollege ist Martin Scharfe, der sich immer wieder mit der Aussage von Bildern beschäftigt. Sein Buch "Bilder aus den Alpen" ist erst heuer erschienen. Ein Beispiel mehr für die Fachgrenzen überschreitende und interdisziplinäre Zugangsweise des Ethnologen. Weil ein Bild bekanntlich mehr als tausend Worte sagt, finden sich in diesem Kapitel zahlreiche Abbildungen. Gerndt gliedert die Laudatio in die Abschnitte: Bilder als Indikatoren …Zeichen … Kulturgebärden … Erkenntnisspuren … Metaphern.
"Wer Volkskunde studiert, hat mehr vom Leben," war Ingeborg Weber-Kellermann, Professorin für Volkskunde in Marburg (Deutschland), Forscherin und Publizistin für Europäische Ethnologie und Kulturforschung überzeugt. Sie hat das Fach nicht nur in erkenntnistheoretischer und sachlicher Hinsicht erneuert, sondern auch sein Bild in der Öffentlichkeit umgeprägt. Schon 1969 warb Weber-Kellermann mit Fernsehserien und Filmen für ein modernes Verständnis von Volkskunde/Europäischer Ethnologie. Mit einer Reihe kulturhistorischer Werke erschloss sie einem breiten Publikum ihr immenses Material an Texten und Bildern.
Leopold Kretzenbacher stammte aus der Steiermark. Er habilitierte sich an der Universität Graz und wirkte u. a. am Landesmuseum Joanneum. Helge Gerndt nennt ihn einen Allround-Wissenschaftler: "Museumsleiter, Hochschullehrer und Forscher. Er hat … unzählige Forschungsfahrten in Kontinental-, speziell Süd- und Südosteuropa unternommen, stützte sich auf breit gefächerte humanistische Kenntnisse und war vieler Sprachen kundig." Das reiche Schaffen fasst der Autor in mehreren Schlagzeilen zusammen: "Forschungsansatz: 'Erwanderte' Heimat und 'erlebte' Volkskultur", "Grundthematik: Volksfrömmigkeit in Geschichte und Gegenwart", "Historische Überlieferungsschichten im Volksschauspiel des 20. Jahrhunderts", "Kontinuität, Wandel und räumliche Differenzierung in Ritus und Brauch", "Mythen-, Sagen- und Legendenstoffe in der mündlichen Überlieferung und der Literatur", "Motive christlicher Legendentradition in Ost und West als Wort und Bild", "Religiöses Bilder-Denken und Bild-Wissen in Katholizismus und Orthodoxie", "Europäische Ethnologie als vergleichende Volkskunde und Kulturgeschichte". Gerndt verdankte seinem Mentor den Kontakt zum großen Wiener Volkskundler Leopold Schmidt, was seine Entscheidung für das Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie mitbestimmte.
Das letzte Kapitel ist Günter Wiegelmann gewidmet. Von ihm stammt unter anderem das in der neueren Volkskunde vorbildliche Werk über Alltags- und Festspeisen. Damit begann die internationale Nahrungsforschung, auch in Nachbardisziplinen. Wiegelmanns Gesamtwerk erscheint Gerndt "in einem außergewöhnlich breiten Sinne exemplarisch, es ist auf eine vernetzte Schlüssigkeit hin angelegt. Errichtet auf einem methodisch gesicherten Unterbau, aussagekräftig durch empirisch vielfach abgestützte Sachergebnisse, zielorientiert eingebunden in ein übergreifende, differenziert ausgefaltetes Kulturkonzept." Eine von Wiegelmanns Maximen war: "Der Forscher braucht Muße", eine andere hat dem vorliegenden Buch den Titel gegeben: "Wissenschaft entsteht im Gespräch" (Werner Heisenberg). Helge Gerndt nennt seine Laudatio-Sammlung "auch ein persönliches Buch", und wünscht sich, dass es jungen Wissenschaftler/innen den Blick auf die Forscherpersönlichkeiten nahezubringt. Denn, so wird deutlich, die Kenntnis biographischer Gesichtspunkte ist wichtig, um Erkenntnisprozesse wissenschaftsgeschichtlich angemessen bewerten zu können.