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Michael Mitterauer: Historische Verwandtschaftsforschung#

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Michael Mitterauer: Historische Verwandtschaftsforschung. Böhlau Verlag Wien 2013. 248 S., € 39,-

Michael Mitterauer, em. Universitätsprofessor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Universität Wien, ist der Experte auf dem Gebiet der historischen Verwandtschaftsforschung. Titel wie "Ahnen und Heilige" (1993) oder "Traditionen der Namengebung" (2011) erschließen Familienforschung und Namengebung als interdisziplinäre Forschungsgebiete. In gleicher Ausstattung ist jetzt bei Böhlau der Band "Historische Verwandtschaftsforschung" erschienen. Er vereint acht Beiträge, deren Thematik spezieller ist als bei den vorhergehenden Büchern. Detailreich ausgeführt, erschließen sich Zusammenhänge, die dem interessierten Laien so wohl kaum bewusst sind.

"Sozialgeschichte beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Strukturen, mit Gemeinschaftsformen, mit Beziehungen und Verhaltensweisen im zwischenmenschlichen Zusammenleben. Für eine wissenschaftliche Beschäftigung mit solchen Themen erscheint es heute selbstverständlich und keiner besonderen Betonung bedürftig, dass es dabei um Beziehungen zwischen Lebenden geht. Beziehungen zu Toten gelten nicht als 'soziale Realität', die man als Sozialwissenschaftler behandeln kann." Als stark kontrastierende Beispiele für die Beziehungen zwischen Lebenden und Toten führt der Autor zunächst den Ahnenkult in China und die europäisch-christliche Tradition an. Nach der vom Konfuzianismus geprägten Vorstellungswelt bildet der patrilineare Klan die wichtigste soziale Einheit zwischen Lebenden und Toten. Im Christentum kommt diese Rolle hingegen der ganzen Kirche zu, die sich als Gemeinschaft der Heiligen versteht. Mit den Vorstellungen über das Zusammenwirken von kultisch verehrten Ahnen und den sie verehrenden Nachfahren korrespondieren die Familien- und Verwandtschaftsverbände unter den Lebenden. Unter den männlichen Verwandten herrschen starke Solidarbeziehungen. Söhne zu hinterlassen, ist ein hoher Wert, weil die Ahnen nur ihre Opfer akzeptieren. Daraus folgt die Tendenz zur Früh- oder Mehrfachheirat und zur Schlechterstellung der Töchter und Witwen. Hingegen ermöglicht das "European marriage pattern" spätere Heirat und mehr Freiheit bei der Partnerwahl. Tote Vorfahren brauchen hier keine Speisung durch Opfergaben, um im Familienverband weiter zu leben. Als "arme Seelen" bedürfen sie, gemäß dem Fegefeuerglauben, der Hilfe durch Gebet. Die Kirche als Gemeinschaft übernimmt die geistliche Fürsorge. Gebetsverbrüderungen mit dieser Aufgabe spielten für die Entstehung des abendländischen Ordenswesens eine große Rolle. Das Allerseelenfest der Westkirche nahm vom Kloster Cluny seinen Ausgang. Das Aufkommen des Fegefeuerglaubens in der Westkirche intensivierte die Heiligenverehrung. Die Gläubigen sind mit ihren Schutzheiligen in besonderer Weise verbunden. Mitterauer bringt den Unterschied auf die Formel "Patroni statt Patres", Schutzheilige statt kultisch verehrter Vorväter.

Das zweite Kapitel behandelt die "geistliche Verwandtschaft" im Kontext mittelalterlicher Verwandtschaftssysteme. Ende des 4. Jahrhunderts war die Kindertaufe schon weit verbreitet. Männliche Taufwerber wurden von einem "Pater", weibliche von einer "Mater" begleitet, ihnen gebührte Ehrfurcht wie den leiblichen Eltern. Seit dem 9. Jahrhundert finden sich im Frankenreich Beispiele für die Benennung von Taufkindern nach ihren Paten.

Im Folgenden geht es um die Terminologie der Verwandtschaft. Bis zum Beginn des Mittelalters differierten die Bezeichnungen für Geschwister des Vaters bzw. der Mutter. Die Griechische und lateinische Sprache waren die ersten, die eine "Parallelisierung" durchführten, im Deutschen erfolgte sie erst in der frühen Neuzeit. So unterschied man bis daher zwischen "Base" (Schwester des Vaters), "Muhme" (Schwester der Mutter), bzw. "Vetter (Bruder des Vaters) und "Oheim" (Bruder der Mutter). Die französischen Lehnworte Onkel und Tante setzten sich erst im 18. Jahrhundert durch. In früherer Zeit gab es auch kein Wort für "Eltern" - ein Spiegelbild der patriarchal, patrilinear und patrilokal geprägten Sozial- und Familienverhältnisse. Die deutschen Begriffe "Großvater" und "Großmutter" verdrängten im 12. Jahrhundert "ano" und "ana", wie sie im Dialekt als "Ahnl" weiterleben.

"Die Sitten der Magier" beleuchtet die Inzestproblematik in historischen Gesellschaften. Als "Magier" bezeichnete man im 6. Jahrhundert die Priester Zarathustras, deren Glaube im Zweiten Persischen Großreich zur Sassanidenzeit (224 bis 642) Staatsreligion war. Auch andere Kulturen, etwa in Ägypten, praktizierten die Verwandtenheirat. Doch ist ihre religiöse Hochschätzung im Zoroastrismus eine Besonderheit im interkulturellen Vergleich. Ein anderer von der christlichen Kirche abgelehnter Brauch ist der jüdische des Levirats. Der Grundsatz "Die Frau des Verstorbenen soll nicht die Frau eines fremden Mannes werden" (Deuteronomium 25,5) hatte religiöse und sozioökonomische Gründe. Die Leviratsehe wurzelte in den gesellschaftlichen Verhältnissen der Hirtennomadenstämme. Als sakralrechtliche Institution wurde an ihm bis in die Moderne festgehalten.

Das sechste Kapitel führt nach Österreich: "Verwandte als Eltern. Familienbeziehungen von Ziehkindern im Ostalpenraum". Die Sorgepflicht der Großfamilie für verwaiste Kinder war in historischen Zeiten ohne öffentliche Sozialeinrichtungen eine Grundfunktion der Verwandtschaft. Autobiographische Zeugnisse aus der vom Autor an seinem Institut begründeten Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen sprechen eine deutliche Sprache über das harte Leben der Ziehkinder. Betroffen waren nicht nur Waisen, sondern auch unehelich Geborene, da Knechte und Mägde nicht heiraten konnten. Die Lektüre zeigt, dass es Ziehkindern bei Verwandten nicht besser erging als bei Fremden.

Eine besonders umfangreiche Abhandlung ist den "Spanischen Heiraten" gewidmet, der dynastischen Endogamie im Kontext konsanguiner Ehestrategien. „Bella gerant alii, tu felix Austria nube.“ – „Kriege führen mögen andere, du, glückliches Österreich, heirate.“ Dieser berühmte Spruch soll den Aufstieg der Habsburger durch Heiratspolitik charakterisieren. Kaiser Maximilian I. (1430-1570) gilt als erfolgreichster Anwender dieser Politik: Burgund, Spanien, Böhmen und Ungarn wurden mit den Hochzeiten Maximilians I., Philipps des Schönen und Ferdinands I. für die Dynastie gewonnen. Hier lernt man aber nicht nur ihn, sondern auch zahlreiche Angehörigen des spanischen Königshauses kennen, die solcherart handelten. Auch ein verhältnismäßig hoher Prozentsatz der Bevölkerung Spaniens pflegte bis ins 20. Jahrhundert Verwandtenehen.

Das Thema Verwandtenheirat hat durch Migrationsprozesse neuerdings Aktualität gewonnen. Gegenwärtigen Verhältnissen widmet sich der letzte Abschnitt "Kontrastierende Heiratsregeln. Traditionen des Orients und Europas im interkulturellen Vergleich." "Im Nahen Osten gibt es eine weitverbreitete Vorstellung über die ideale Braut. Man ist überzeugt, dass die Heirat mit einer nahen Blutsverwandten von besonderem Vorteil sei. Eine Präferenz besteht dabei für die Vatersbrudertochter… ". Dies erscheint im interkulturellen Vergleich auffällig. Als Syrien 1920 als Mandatsgebiet an Frankreich übertragen wurde, sollte diese Tradition verboten werde - doch Frankreich verlor die Auseinandersetzung. Für das orientalische Heiratsmuster wurde festgestellt, dass es dem Verbreitungsgebiet der nomadischen Kamelzucht entspricht. Die Eheschließung von Kindern zweier Brüder sicherte das Überleben unter den spezifischen Bedingungen der Beduinen. In den Bauernkulturen Europas gibt es dazu keine Parallele. Verwandtenehen wurden bei den Arabern schon in vorislamischer Zeit geschlossen. Muhammad hat diese traditionelle Eheform zwar selbst praktiziert, aber prinzipiell vor deren Folgen gewarnt. "Der Abschied von gesundheitlich problematischen Heiratsgewohnheiten mag leichter fallen, wenn man sie nicht als eine religiöse Tradition sieht," meint Mitterauer und schließt sein Buch: "Heiratsregeln sind tief verankerte Muster, die große Beharrungskraft haben. Auch das ist eine Lehre aus der Geschichte. So wird man sich im Zusammenleben in Europa wohl noch für einige Zeit mit den kontrastierenden Heiratsregeln von Orient und Europa zu befassen haben."