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Peter Payer: Unterwegs in Wien#

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Peter Payer: Unterwegs in Wien. Kulturhistorische Streifzüge. Mit einem Vorwort von Peter Patzak. Czernin-Verlag Wien 2013, 264 S., € 23,00

"Wien ist anders" - wäre der Slogan der Stadtverwaltung aus den späten 1980er Jahren nicht schon so abgegriffen - er würde den Inhalt dieses Buches am besten charakterisieren.

Es ist nun schon der zweite Band der "kulturhistorischen Streifzüge" des Stadtforschers Peter Payer. Diese Essays erschienen in den Tageszeitungen "Die Presse", "Die Furche", "Wiener Zeitung" und "Neue Zürcher Zeitung". Es ist erfreulich, die fast 30 "präsentierten Fundstücke" (so der Filmregisseur Peter Patzak in seinem Vorwort) nun gesammelt zu genießen.

MMag. Dr. phil. Peter Payer, Kurator im Technischen Museum Wien, arbeitet seit Beginn der 1990er Jahre als Wissenschafter, Ausstellungskurator und Publizist im Bereich der historischen Stadtforschung. Besonders interessieren ihn die sozialen, ökonomischen und kulturellen Transformationen der Großstadt auf ihrem Weg in die (Post-)Moderne. Beispiele bietet die Alltagsgeschichte vom 19. bis ins 21. Jahrhundert, wobei der "Sinnesgeschichte" - Hören, Schmecken, Sehen und Fühlen - große Bedeutung zukommt.

"Wer ist lauter ?" fragt gleich das zweite Kapitel, und "War es in Wien um 1900 lauter als in anderen Großstädten?" Mit knapp zwei Millionen Einwohnern zählte die Reichshaupt- und Residenzstadt zu den größten Metropolen Europas und galt als "nervöseste Großstadt des Kontinents". Der "Wiener Lärm" war sprichwörtlich und der renommierte Feuilletonist Eduard Pötzl kritisierte, dass nirgends so viel unnützer Lärm erzeugt werde und sich die Menschen derart laut verhielten, "als fürchteten sie, sonst übersehen zu werden." Zeitgenossen stellten in Paris einen "gedämpfteren Grundton" fest und verliehen Berlin die "Palme der Geräuschlosigkeit". Dennoch wurden dort die wächsernen "Ohropax Geräuschschützer" erfunden und produziert, die auch in Wien begeisterte Käufer fanden. Allen voran der nervöse Literat Peter Altenberg, der zuvor die von einem deutschen Hauptmann erfundene Metallkugel "Antiphon" als "Apparat zum Unhörbarmachen von Tönen und Geräuschen" verwendet hatte. Der dritte Beitrag zum Thema Hören beschäftigt sich mit der Verfeinerung der Sinneswahrnehmung im Konzertsaal oder Theater. Der Respekt vor dem Kunstwerk verlangte Stille vom Publikum: "Sobald die Lippen schlafen, erwachen die Seelen und begeben sich an die Arbeit." (M. Maeterlinck). Der Kunstgenuss konnte beginnen.

Den kleinen kulinarischen Genüssen sind einige Artikel gewidmet: Als "heisse Ware für kalte Zeiten" bieten sich Edelkastanien an. Die Maronibrater gehörten in der Barockzeit ebenso zum Wiener Straßenbild, wie 1895 oder 2013. Jetzt werden an rund 190 Verkaufsständen pro Saison eine geschätzte Million Kilogramm verkauft. Es wäre nicht Wien, würde nicht auch der Würstelstände mit ihren Spezialitäten und ihrer Subkultur gedacht. Wer hier wie dort oder anderswo der Nahrung zu sehr zugesprochen hat, hat seit den 1880er Jahren Gelegenheit, mittels öffentlicher Waagen einem Appell zu folgen: "Prüfe dein Gewicht!" Dass diese Art der Stadtmöblierung typisch wienerisch sein soll, wird Einheimischen kaum auffallen, doch: "Als technische Kleindenkmäler sind die Personenwaagen zu kuriosen Wahrzeichen der Stadt avanciert."

Zum "Sehen" passt sehr vieles, wie der Verkehr auf der Opernkreuzung (er könnte auch unter "Hören" fallen). Markant und kurios ist die Geschichte des Polizisten, der dort nicht nur freundlich lächelnd den Verkehr dirigierte (weshalb man ihn "Karajan von der Opernkreuzung" nannte) und deshalb zu Weihnachten von den Autofahrern Geschenke erhielt, sondern sogar die Operndiva Ljuba Welitsch heiratete. 1923 beschloss der Gemeinderat die flächendeckende elektrische Straßenbeleuchtung. Einige Jahre später zählte Wien zu den "bestbeleuchteten Großstädten der Welt". Wichtige Gebäude wurden angestrahlt und 7000 Leuchtreklamen schien die Nacht zum Tag zu machen. Zu den weniger spektakulären Sehenswürdigkeiten zählen die Wiener Würfeluhren, deren Prototyp 1907 auf einem Lichtmast an der Opernkreuzung installiert wurde und die genau 100 Jahre später eine Neuauflage erlebten. Typisch für die moderne Stadtmöblierung sind die 2002 für das Museumsquartier entworfenen "Enzis" (jetzt "Enzos") geworden. Die poppig-bunten Liegemöbel aus Kunststoff prägen das Kulturareal. Andere temporäre Elemente sind längst verschwunden, wie die überdimensionalen handgemalten Kinoplakate, mit denen Lichtspieltheater in der Nachkriegszeit Werbung betrieben. Peter Payer besuchte den letzten Filmplakatmaler, den 1998 verstorbenen Eduard Paryzek. Auch dem Atelier von Gustav Mezey stattete er Besuche ab. Dieser Grafiker entwarf nicht nur Filmplakate, sondern auch andere Reklame und Geschäftslokale. Zu den urbanen Orten, die man in Wien gesehen haben musste, zählten in den 1960er Jahren die Opernpassage und der inzwischen demolierte Südbahnhof.

Mit "Fühlen" ist eigentlich alles verbunden, sei es die Einnerung an den Südbahnhof oder das Mitgefühl beim "Todessturz am Donaukanal". Am letzten Termin seiner spektakulären Donaukanalüberquerungen auf dem Hochseil kam am 17. Juli 1949 der Artist Josef Eisemann ums Leben, mit ihm seine Tochter, die er auf den Schultern trug. Emotionen verbinden sich mit Orten und Situationen. Das können (Luftschutz-)keller sein, oder der Höhenwanderweg, die "Nase" auf den Leopoldsberg, der Donaukanal - "der Spalt von Wien" - oder der immer windige Stephansplatz. Emotionen zu wecken ist die Aufgabe der Schriftsteller. So gedenkt Peter Payer auch prominenter Kollegen der schreibenden Zunft. Der Kulturjournalist Eduard Pötzl , "eine publizistische Autorität mit beachtlichem Wirkungskreis", erfand die Figuren Nigerl und Gigerl, pflegte Kontakte mit Mark Twain und war überhaupt der bekannteste Großstadtreporter seiner Zeit. Die Erfinder der unzähligen Witze von Graf Bobby, Graf Rudi, Baron Mucki oder Baron Schmeidl blieben anonym. Oft hat die fiktive Figur des leicht dekadenten Aristokraten "herrenlose" Witze an sich gezogen. Die Darstellung durch den Entertainer Peter Alexander machte den eleganten Bobby - mit Monokel, Melone und Spazierstock - populär. Jetzt droht die Figur in Vergessenheit zu geraten. Zumindest ihr Name ist in einem Schokoriegel lebendig geblieben.

Peter Payer spricht von "Wahrnehmungssplitter(n), zusammengefügt zu einem Kaleidoskop". Peter Patzak weiß, "was immer Peter Payer in seiner Arbeit berührt, wird Wirklichkeit, Dokument und dennoch Poesie" ' . Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dem Wunsch nach einem dritten Band.