Alexandra Strohmaier (Hg.): Kultur - Wissen - Narration #
Alexandra Strohmaier (Hg.): Kultur - Wissen - Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften. Transcript Verlag Bielefeld 2013. 544 S., zahlr. Abb., 39,80 €22 Autorinnen und Autoren aus Deutschland und Österreich (Universitäten Graz und Wien) beschäftigen sich in dem Sammelband mit dem "narrativist turn" in den Humanwissenschaften. Die meisten Beiträge gingen aus Vorträgen der Tagung "Kultur - Wissen - Narration" hervor, die 2010 vom Zentrum für Kulturwissenschaften der Universität Graz veranstaltet wurde.
Die im Abschnitt "Über Narration und Narratologie(n)" versammelten Beiträge nähern sich dem Erzählen und seiner Wissenschaft. Hier geht es etwa um das komplizierte Zusammenspiel von Selbst-Erzählung und Selbsterkenntnis. Zudem wird die Tragfähigkeit von Erzählungen als Grundlage kulturwissenschaftlicher Forschung ausgelotet. Im Abschnitt "Wissen und Narration" steht die Erkenntnisfunktion des Erzählens im Zentrum. Beispiele kommen aus den Naturwissenschaften, der Psychoanalyse und der Kriminalgeschichte. Letztere wird von Christian Bachhiesl referiert, der mit einem einprägsamen Beispiel beginnt. 1910 betätigte sich ein Ehepaar in der Untersteiermark in ihrem eigenen Haus als Brandstifter. Ein Untermieter hatte ihnen erzählt, dass er des Zauberns kundig sei und nach entsprechendem Ritual aus der Asche des Hauses ein Schatz auftauchen werde. Kein Einzelfall, meint der Autor, denn der Aberglaube beschäftige Kriminologen in hohem Maße. Wenn auch das Gericht an Wahrheit interessiert sei, wäre es sinnlos aufgrund von Erzählungen nach objektiver Wahrheit zu suchen.
Die Autorinnen und Autoren der im Abschnitt "Narration (und ihre Grenzen) in Literatur, Kunst und Alltagskultur zusammengefassten Beiträge widmen sich biblischen Erzählungen und literarischen Narrativen, dem Erzählen in visuellen Medien, der "musealen Narration", der Biographiearbeit und Selbstnarration in der digitalen Alltagskultur. Das Alte Testament dient wie andere große Erzählungen des Orients der Weltdeutung. Das biblische Narrativ konstituierte, je länger es sich weiter entwickelte, umso ausgeprägter die Identität des Volkes Israel und seines Gottes JHWH. Wenn die Texte lebendige Glaubenstradition bleiben sollen, müssen sie von jeder Generation neu gelesen (erzählt) und auf das eigene Leben angewendet werden. Es geht - nicht nur bei der Bibel - um das Erzählen als soziale Praxis, seine welterzeugenden und -erklärenden, identitätsstiftenden und spielerischen Funktionen.
Nachdem sich der Wiener Kunsthistoriker Jörn Wendland mit Möglichkeiten und Grenzen der Narration - bei Häftlingen der NS-Zwangslager - beschäftigt hat, landet man von der Zeitgeschichte in der Gegenwart. Thomas Thiemeyer, empirischer Kulturwissenschaftler an der Universität Tübingen, referiert "Simultane Narration - Erzählen im Museum". Kulturhistorische Museen erzählen mit Objekten. Doch deren Geschichten sind fragmentarisch, abhängig von Chancen und Zufällen der Überlieferung. Daher benötigen die Exponate Texte, die ihnen (Be-)deutung geben. Gefragt sind narrative Strategien des Ausstellens und Nachvollziehbarkeit. (Erinnert sei in diesem Zusammenhang an Schloss Schönbrunn, dessen Führer eine Ausbildung in Storytelling erhalten). Die beiden letzten Beiträge - "Raum(bild)handlung im Computerspiel" von Stephan Günzel, Berlin, und "Biographiearbeit und Selbstnarration in den sozialen Medien des Web 2.0" von Ramon Reichert, Wien, öffnen den Blick in die Zukunft, die schon begonnen hat. Das Medium Computerspiel ist Forschungsgegenstand der Narratologie, wie der Ludologie. Trotz etlicher Gemeinsamkeiten gibt es Unterschiede zwischen Buch und Videospiel. Das Spiel reagiert auf den Benutzer und verändert sich bei jedem Durchgang. Es können neue Figuren auftauchen, die Sequenzen sind flexibel. Erzählungen handeln in der Vergangenheit, das Spiel ist in der Gegenwart zuhause. Mittels Bild und Ton fordert es zur Interaktion auf. Interaktion ist auch ein Schlüsselbegriff der sozialen Medien des Web 2.0. Die "Bekenntnis-und Geständniskultur", seit den 1980er Jahren Quotenbringer in TV-Talkshows, führte zu einem "neuen Trend der Selbstkultur". Wer nicht öffentlich von sich erzählen will, gilt als asozial. Ramon Reichert, Univ. Prof. für Neue Medien in Wien, konstatiert als "aktuelles Leitbild ein mediatisiertes Selbst". Stichworte dazu sind etwa: Biographiearbeit, Selbstnarration, Selbstinszenierung, Identitätsarbeit, Selbstmanagement und Empowerment wirting (Das Erzählen der eigenen Geschichte soll Fähigkeiten und Möglichkeiten des Erzählers erweitern). Social Software unterstützt die Tendenz zur biographischen Bilanzierung. Selbstinszenierungen in digitalen Netzwerken werden immer mehr zur Aufgabe für einzelne und Organisationen, "Aufmerksamkeitsmärkte für Selbstdarstellungen" und Prosumer-Kulturen sind entstanden. Reicherts Ausblick: "Der Selbstbezug des einzelnen und die Sorge um sich selbst ist eine gesellschaftliche Konstruktion und oft marktabhängig erzwungen. Die Subjektivierung selbst ist ein prekärer Vorgang, da sich in ihm Autonomie und Kontrolle, Selbst- und Fremdführung untrennbar miteinander vermengen. In seinen Möglichkeiten zur Selbstexpression und Selbstexploration situiert sich das Subjekt sowohl als eine steuernde als auch gesteuerte Distanz: es ist gleichzeitig Urheber, Adressat und Schauplatz eines Erzählens, das es selbst hervorbringt, aber letztlich nicht von den Ordnungen des Wissens, der Kräftespiele und Herrschaftsverhältnisse befreien kann."