Michael Mitterauer: St. Jakob und der Sternenweg#
Michael Mitterauer: St. Jakob und der Sternenweg. Mittelalterliche Wurzeln einer großen Wallfahrt. Böhlau-Verlag Wien - Köln - Weimar 2014. 213 S. € 19,90
215.000 registrierte Pilger (und noch viele mehr, die sich keine Urkunde ausstellen lassen) besuchten im Jahr 2013 den spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela. Viele kommen - wie schon im Mittelalter - aus religiösen Gründen, doch auch als Touristen oder auf Selbsterfahrungstrip. Der Europarat ernannte den Jakobsweg 1984 zum Europäischen Kulturweg, seit 1993 steht er auf der UNESCO-Weltkulturerbeliste.
Kontinuitäten und Kontrasten der mittelalterlichen und aktuellen Wallfahrtsbewegung nach Galicien widmet Michael Mitterauer sein 9. Buch im Böhlau-Verlag. Der Autor ist emeritierter Professor für Sozialgeschichte an der Universität Wien, und die Mittelalterforschung eines seiner hauptsächlichen Arbeitsgebiete. Für das Buch "Warum Europa ? Mittelalterliche Grundlagen eines Sonderwegs" erhielt er den deutschen Historikerpreis. Sein Zugang zum Thema Jakobsweg führte über viele Stationen: 1967 publizierte Mitterauer über "Jahrmärkte in Nachfolge antiker Zentralorte", es folgten zahlreiche Studien über zentrale und heilige Orte, Dimensionen des Heiligen, Kirche und Mittelalter. Die sieben, mit Zitaten übertitelten, Kapitel seines neuesten Werkes versteht der Autor als Skizzen zu einigen thematischen Schwerpunkten. Doch diese "Skizzen" vermitteln völlig neue Zugänge zu einem Thema, dem schon viele Bücher gewidmet wurden.
Das erste Kapitel ist "Jakobus, der Sohn des Zebedäus" überschrieben. So nennt das Matthäusevangelium den Apostel Jakobus den Älteren im Unterschied zu anderen prominenten Namensträgern. Seit dem Hoch- und Spät Mittelalter stellte man ihn als Pilger mit Stab, Hut und Muschel dar. Die an der Atlantikküste weit verbreitete "Jakobsmuschel" galt seit der Antike als Symbol des ewigen Lebens. An die Kleidung geheftet, war sie ein Zeichen der Zugehörigkeit zum Stand der Pilger, die seit dem 11. Jahrhundert Privilegien genossen. Als Grabbeigabe von Jakobspilgern galt sie geradezu als "Eintrittsbillett in den Himmel". Sie verweist auf eine frühe Verbindung zwischen Jakobsverehrung und Jenseitsglauben, auf die der Autor in der Folge immer wieder zurückkommt.
Die Bibel berichtet nichts über die legendäre Missionstätigkeit des Apostels Jakobus oder dessen Grab in Spanien. Nach frühchristlichen Quellen wirkte er in Judäa und Samaria und ist "Begraben in Jerusalem". Das so betitelte zweite Kapitel beschäftigt sich mit dem Kult, der Auffindung des vermeintlichen Grabes (auf einem Friedhof aus römischer Zeit), Anfang des 9. Jahrhunderts. Um 900 verzeichnete es schon beträchtlichen Pilgerzustrom und im 12. Jahrhundert begann die Glanzzeit der Wallfahrt zum Apostelgrab.
Das dritte Kapitel behandelt die historische Konkurrenz der Wallfahrtsorte Santiago und Oviedo, der politische und kirchenpolitische Bedeutung hatte. Zwar war Oviedo seit dem 9. Jahrhundert Königsresidenz, aber - anders als Santiago - kein traditioneller Bischofssitz. Gezielte Reliquienpolitik - in diesem Fall Kreuzpartikel und Schweißtuch - sollte die "Wallfahrt von oben" fördern.
Im Jakobsweg als Via Sacra sieht Michael Mitterauer einen Ausdruck des "Reliquienzeitalters". Im Abschnitt "Der Weg beginnt in deinem Haus" beschreibt er die damals gängigen Fernwallfahrten. Santiago mit dem Nebenziel Kap Finisterre - das Ende der Welt am Atlantik - war in ein großes europäisches Wallfahrtssystem eingebunden. Viele Pilger absolvierten im späten Mittelalter alle drei großen Wallfahrten (Jerusalem, Rom, Santiago), oft sogar unmittelbar nacheinander.
"Die Sternenstraße" verweist auf die Ursprungslegende. Demnach hätte ein Eremit Sternenglanz über einem Hügel wahrgenommen, den sein Bischof mit dem Jakobsgrab in Zusammenhang brachte. In vielen Sprachen korrespondieren die Bezeichnungen für den Jakobsweg und die Milchstraße. "Der irdische Pilgerweg wird mit einem am Himmel sichtbaren Phänomen gleich gesetzt", schreibt Mitterauer. Er zitiert den wirkmächtigen Text des Pseudo-Turpin aus dem 12. Jahrhundert über eine Vision Karls des Großen. Darin hätte der Apostel dem Kaiser aufgetragen, auf dem Sternenweg "mit Heeresmacht zum Kampf gegen das ungläubige Heidenvolk" zu ziehen. Karl der Große war niemals in Santiago, und der Grabfund erfolgte erst nach seinem Tod. Die anachronistische Geschichte ist "als Instrument des Kampfes um den Primat Santiagos in der spanischen Kirche, als Legitimation der Reconquista als heiliger Krieg" zu verstehen.
Es ist eine Besonderheit des Jakobswegs, dass man ihn als Pilgerweg der Lebenden und der Toten ansah. Wer ihn nicht bei Lebzeiten ging, musste ihn als Seele antreten, der Heilige würde diese dann ins Jenseits geleiten. Die Vorstellung vom Weg der Seelen entlang der Milchstraße war schon in der vorchristlichen Antike bekannt. Überschichtungen christlicher und älterer Ideen, wie der Astralreligion, hielten sich in Galicien besonders lang. Dazu zählten auch andere Elemente ländlicher Glaubensvorstellungen, wie das Weiterleben in Tiergestalt, der Brauch, entlang des Weges Steine aufzuhäufen (Milladoiros) oder die Wertschätzung von Finis Terrae.
Üblicherweise ist bei Kontinuitätstheorien, besonders im Zusammenhang mit den Kelten, größte Skepsis angebracht. Wenn aber eine Autorität wie Michael Mitterauer mit aller Vorsicht auf solche Zusammenhänge hinweist und sie belegen kann, muss man im konkreten Fall einiges neu bedenken: Das vorchristliche Substrat lässt sich nicht eindeutig bestimmten kulturellen Wurzeln zuordnen. Einflüsse keltischsprachiger Kulturen Nordwesteuropas spielten in der Geschichte Galiciens eine große Rolle - "aber sicher nach Epochen in sehr unterschiedlicher Weise. … neben den Beziehungen, die über das Meer vermittelt wurden, stehen starke Traditionen autochthoner Kulturen der nordiberischen Gebirgsregionen." Eine wichtige Vermittlerfunktion zwischen christlichen und vorchristlichen Praktiken kam den Eremiten zu.
Schließlich spielte der 1274 von der katholischen Kirche verbindlich definierte Fegefeuerglaube eine wesentliche Rolle für die Seelenreise auf dem Jakobsweg. Um sich deren Strapazen zu ersparen, nahmen viele lieber zu Lebzeiten die beschwerliche Pilgerschaft in Kauf. "Der große Aufschwung der Wallfahrt nach Santiago de Compostela im Hoch- und Spätmittelalter lässt sich aus dieser Motivation plausibel erklären." Ein weiteres Motiv war jenes der Bußwallfahrt, die auch von der weltlichen Gerichtsbarkeit auferlegt wurde. Der Besuch der heiligen Stätte in Santiago wurde jenem von Rom und Jerusalem gleich gestellt. Schwierigkeiten auf dem Weg ins Heilige Land und der Verlust von Jerusalem 1187 brachten den beiden anderen Zielen einen Bedeutungszuwachs.
"Man kann solche Phänomene im Kontext eines Interesses am Weltbild von Menschen im Mittelalter betrachten. Dann eröffnen sie exemplarisch Zugänge zur Bedeutsamkeit von Religion in Gesellschaften vergangener Zeiten. Man kann darüber hinaus auch fragen, was sie - gerade aus dem Gegensatz gesehen - für existenzielle Probleme von heute bedeuten", schreibt Michael Mitterauer, aber: "Aussagen darüber überschreiten die Kompetenz des Historikers. Sie müssen in einem größeren Kontext getroffen werden. Grundsätzlich aber gilt: Pilgerweg bedeutet Lebensweg. …"