Werner Reiss: Neue Legenden#
Werner Reiss: Neue Legenden in biblischer Handschrift. Platttform Verlag, Wien 2014. 116 S., € 16,90
Legenden, meint der Theologe Paul F. Röttig im Nachwort, sind eine Literaturspezies, die "nicht unbedingt der Medienkultur der heutigen Generation zurechenbar ist." Andererseits, so der Herausgeber der neuen Reihe "Plattform religio": "Was in unseren Herzen hängenbleibt, sind Geschichten. Auch Jesus hat den Menschen, denen er begegnete, Geschichten erzählt und ihre Neugier geweckt."
Die Neugier der Leserschaft versteht Werner Reiss mit seinen Neuen Legenden auf vielfache Weise zu wecken. Neugierig geworden, stellt man Fragen: Wo endet ein biblischer Text, und wo beginnt seine Fortsetzung "in biblischer Handschrift" ? Für die Antwort empfiehlt es sich, die Heilige Schrift griffbereit zu haben. Ein nicht zu unterschätzender Nebeneffekt ist, dass man sich, mehr als geplant, mit dem Alten und Neuen Testament auseinandersetzt. Würde man sich an die Anzahl der Kapitel - 52 - halten und über jedes eine Woche meditieren, wäre man ein Jahr lang auf das Anregendste beschäftigt. Weil aber die Zeit schnelllebig und die Kapitel kurz sind, geht es auch schneller, doch nicht weniger gewinnbringend.
Die Anordnung der Legenden folgt der biblischen Einteilung, nur Anfang und Ende machen eine - dramaturgische - Ausnahme. "Der Geist der Übung" ist das erste Kapitel übertitelt, das die Psalmen 15 und 24 zum Inhalt hat: Die Bedingungen für den Eintritt in das Heiligtum. Nr. 52 "Das Lob aus dem Feuer" zitiert den Lobgesang der drei jungen Männer, die im Buch Daniel unversehrt aus dem Feuerofen kommen: "Preist alle den Herrn, … singt ihm Lob und Dank, denn ewig währt seine Güte." Ein großartiges Finale für die Geschichten, in deren Mittelpunkt "der von Gott geliebte und gewollte Mensch" steht, wie es der Herausgeber formuliert.
Der Autor, DDr. Werner Reiss, ist Theologe, Jurist und Philosoph, war u. a. Universitätslektor und ist jetzt Rektor der Otto-Wagner-Kapelle am Wiener Währinger Gürtel. Seine Predigten in der kleinen Gemeinde sind ebensolche Kostbarkeiten wie die Geschichten, die er mit legendenhaften Zügen einleitet: "Ich selbst, ein armer, unwissender Leutpriester, war im Chorherrenstift Vorau zu Besuch." Dort holte ihm der Bibliothekar aus dem Tresor eine fragmentarisch erhaltene Legenden-Handschrift aus dem 13. Jahrhundert. "Schließlich … ging ich dazu über, die riesigen Lücken des Textes nach eigenen Vorstellungen zu ergänzen …" Das Buchprojekt, das Werner Reiss seit längerer Zeit beschäftigte, hätte auch "Was wurde aus …" heißen können.
Was wurde eigentlich aus den Hirten, die nach Lk.2 Maria, Josef und das Jesuskind, das in der Krippe lag, aufsuchten ? Einer von ihnen wurde so alt, dass er seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, doch die Begegnung im Stall von Betlehem wirkte weiter. Er hatte die "Zuversicht gelernt, jeden Tag furchtlos anzunehmen und die große Freude nicht verglimmen zu lassen." Der Hirte wurde Krippenschnitzer und freute sich, wenn er hie und da ein Stück verkaufen konnte. "Er weigerte sich aber mit Entrüstung, diese Erinnerungszeichen in Serie zu erzeugen, was ihm ein ansässiger Gastwirt nahe legte."
Was wurde aus Zachäus, dem reichen Zollpächter in Jericho, der auf einen Baum stieg, um Jesus besser sehen zu können, als der, umringt von einer Menschenmenge, in die Stadt kam. Nachdem Jesus bei ihm zu Gast war, verschenkte Zachäus sein halbes Vermögen und gab unrechtmäßig Verlangtes vierfach zurück. In der Legende geht es so weiter: "Indem er sich an das Verlangte hielt, musste er seinen Lebensstil deutlich zurücknehmen. Er verlor viele Freunde, gewann aber dafür viele neue. … In einer weit entfernten Stadt sollte jemand ein Kinderspielzeug ersinnen, das Zachäus zeigt, wie er vom Baum herunterrutscht, breit grinsend. Auch so lebt die Erinnerung."
Werner Reiss erzählt seine Neuen Legenden mit Weisheit und Humor - und das unterscheidet sie wohltuend von vielen alten.