Barbara Schedl: Der Plan von St. Gallen#
Barbara Schedl: Der Plan von St. Gallen. Ein Modell europäischer Klosterkultur. Böhlau Verlag Wien - Köln - Weimar 2014, 146 S., ill, mit Plan, € 29,90
Der heilige Martin von Tours (um 316/317 - 397), der Landespatron des Burgenlandes, ist einer der bekanntesten Heiligen. Nach der berühmten Legende, teilte er mit einem Bettler seinen Mantel, die cappa. Diese war eine hoch angesehene Reliquie, von der sich die Begriffe Kapelle (als ihr Aufbewahrungsort) und Kaplan ableiten. Einer seiner Weggefährten, Sulpicius Severus, verfasste um 395 Martins Lebensbeschreibung. Sie diente im Frühmittelalter im Bereich der fränkischen Reichskirche und darüber hinaus als Vorbild für weitere Heiligenviten. Eine Kompilation aus dem 12. Jahrhundert befindet sich auf der Rückseite des berühmten Klosterplans von St. Gallen.
Der Klosterplan von St. Gallen (Schweiz) gehört zu den bedeutendsten Denkmälern der karolingischen Zeit. Die früheste erhaltene und umfangreichste Visualisierung eines Baukomplexes ist seit seiner Anfertigung, wohl vor 830, im Besitz der Stiftsbibliothek St. Gallen. Die Geschichte der Erforschung der Architekturzeichnung reicht vier Jahrhunderte zurück. 1461 wurde sie "als ein großes Fell, worauf das Leben des Hl. Martin geschrieben und das Gefüge seiner Baulichkeiten gezeichnet ist", beschrieben, aber für den Plan des Martinsklosters in Tours (Frankreich) gehalten. Seit 1604 weiß man, dass es sich um das Kloster St. Gallen handelt. 1704 veröffentlichte man den Plan erstmals als Kupferstich. 1844 entstand eine bessere Reproduktion, dazu ein Kommentarheft und ein Modell. 1952 wurde nachgewiesen, dass es sich bei dem Plan um das Werk von zwei Personen aus dem Kloster Reichenau (Deutschland) handelt. Nun legt die Wiener Dozentin für Kunstgeschichte, Barbara Schedl, neueste Erkenntnisse zum "Schlüsseldokument der karolingischen Renaissance" vor. Sie war in jahrelanger Arbeit an dem Projekt "Codex Sangallensis 1092. Content and context" der University of California, Los Angeles, beteiligt. So zählt sie zu den wenigen Auserwählten, für die der Klosterplan aus der gesicherten Panzerglasvitrine geholt wurde, damit sie ihn im Original studieren konnten.
Ein Ergebnis der Forschungen ist die vorliegende Publikation, zu der die Autorin schreibt: "Es war mir wichtig, durch eine systematische strukturelle Aufbereitung der auf der Architekturzeichnung vorhandenen Texte, kleinteiligen Grundrissdarstellungen und Symbole ein benutzerfreundliches Buch zu schaffen." So hat sie zahlreiche Illustrationen mit Erläuterungen und Farbmarkierungen eingefügt. Barbara Schedl erläutert erstmals das schrittweise Entstehen der Architekturzeichnung und die ursprüngliche Intention der Planverfasser. Dabei dürfte es sich nicht um einen Bauplan im modernen Sinne handeln: "Es sind keine Höhen angegeben, keine Mauerstärken, keine Baumaterialien und keine äußeren oder inneren Oberflächen. Proportionen widersprechen einander, und die Frage, ob man einen oder mehrere Maßstäbe anlegen müsste, um die Gebäude zu deuten, ist nach wie vor offen."
Planempfänger war gemäß dem Widmungstext Gozbert, in dessen Zeit als Abt (816-837) ein Umbau des Klosters St. Gallen fällt, oder dessen gleichnamiger Neffe, der dort als Mönch und Verfasser von Urkunden und literarischen Texten lebte. Das Kloster - das nicht von einer Mauer eingefriedet war - barg 45 Gebäudegruppen, neben Kirche, Kloster mit Kreuzgang und der Abtpfalz u. a. das Noviziat, Krankenhaus, Bäder (obwohl die Mönche nur zu Weihnachten und zu Ostern baden durften), Schule, Gästehaus, Bibliothek und Handwerksbetriebe. Dazu zählten u. a. Brauerei, Bäckerei, Küferei und Drechslerei, Darre, Stampfe und Mühlen, Gerber, Schuster, Sattler, Eisen- und Goldschmiede. Die Anlage basierte sowohl auf der Regel des Hl. Benedikt als auch auf der Landgüterverordnung Karls des Großen (um 812). Deren detaillierte Vorschriften über die Verwaltung der Krongüter wurde im Bereich der Landwirtschaft von den Klöstern übernommen: Ställe für Geflügel, Schafe, Ziegen, Schweine, Rinder, Pferde; Kornspeicher, Scheune und Tenne. Ein getreues Abbild des "Capitulare de villis" sind auch die Pflanzen im Gemüse- und Obstgarten, darunter Zwiebel, Sellerie, Salat, Mohn und Rettich, sowie Apfel-, Birn-, Nuss- und Maulbeerbäume.
Die Autorin konnte zeigen, wie der Plan aus fünf Pergamentstücken aus Schafshaut entstand, mit verschiedeneren Tinten vorgezeichnet und in Teilen ausgeführt wurde. Das erste Stück, etwa im Format DIN A2, umfasst Kirche, Klausur und Vorratsräume. "Pilger, die das Grab des Hl. Gallus besuchen wollten, oder auch vornehme Gäste fanden in dieser Anlage noch keinen Platz." Die Erweiterung erfolgte auf einem angefügten zweiten Pergament. Auf diesem erscheinen eine großzügige Herberge mit eigener Brauerei und Bäckerei, Abtpfalz und Schule. Schon dreijährige Knaben wurden den Klöstern zur Erziehung übergeben, der Abt hatte für ihr Wohlergehen zu sorgen. Den dritten, rechts angenähten Pergamentstreifen nutzte man, um die Küche der Mönche mit einer Brauerei und einem Backhaus zu erweitern. Dazu kamen Handwerksbetriebe und Mühlen, da die Benediktsregel einen Standort an einem Wasserlauf empfahl. Auf dem vierten Stück Pergament fanden die Bereiche für Kranke und für Novizen Platz. Südlich des Novizenbereichs lagen der Baumgarten mit dem Friedhof und der Gemüsegarten. Zwei große Rundbauten waren für die Haltung von Hühnern und Gänsen vorgesehen, deren Genuss (im Unterschied zu vierfüßigen Tieren) den Benediktinern erlaubt war. Das fünfte Stück Pergament enthält die Ställe größerer Nutztiere und entspricht somit zwar dem Capitulare, aber nicht der Regula Benedicti. Großformatige Pergamente wie dieses wurden nach bestimmter Art gefaltet, um sie besser aufbewahren zu können.
Die spezielle Faltung liefert auch den Schlüssel zu der auf der Rückseite angebrachten Martinsvita. 14 Seiten brachte der Schreiber auf diese Weise unter (zwei blieben leer), weil der Platz nicht ausreichte, schabte er einen Teil der Vorderseite ab. Die Lebensgeschichte wurde neuerdings vom Mittelalterhistoriker Karl Brunner bearbeitet. Bei seiner Textanalyse stellte er fest, dass ein Alemanne dem Schreiber diktierte, der ein Romane gewesen sein dürfte. Der Kompilator ging vom Text des Sulpicius Severius aus, wobei er diesen dem Zeitgeschmack anpasste und durch Wundergeschichten aus anderen Quellen anreicherte. "Strukturell wurden die einzelnen Textelemente äußerst geschickt zusammengestellt", urteilt der Mediävist.
Dem Buch ist ein verkleinertes Faksimile beigelegt, das den Klosterplan aus dem 9. Jahrhundert und auf seiner Rückseite die im 12. Jahrhundert niedergeschriebene Martinsvita zeigt.