Peter Stachel - Martina Thomsen (Hg.): Zwischen Exotik und Vertrautem#
Peter Stachel - Martina Thomsen (Hg.): Zwischen Exotik und Vertrautem. Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten.Transcript-Verlag Bielefeld 2014. 296 S., € 38,99
Peter Stachel ist Dozent für Neuere Geschichte und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien. Martina Thomsen ist Juniorprofessorin für die Geschichte Ostmitteleuropas an der Universität Kiel. In internationaler und interdisziplinärer Zusammenarbeit entstand zunächst die Tagung "Das Fremde im Eigenen. Tourismus in Österreich-Ungarn und seinen Nachfolgestaaten", danach der Sammelband.
Er vereint Beiträge von 16 Expert/innen aus Österreich, Ungarn, der Slowakei, Tschechien, Rumänien, Italien, Deutschland, Großbritannien und den USA. "Der Tourismus als moderne Form des Reisens ist gleich zu Beginn seines Aufkommens Ende des 18. und seiner sukzessiven Ausweitung im 19. Jahrhundert wiederholt zum Gegenstand von Abhandlungen gemacht worden - in bilanzierender, projektierender, aber durchaus auch schon in kritischer Absicht", schreibt Rudolf Jaworski einleitend. Historische und kulturwissenschaftliche Fragestellungen bildeten nur ein "überschaubares Segment", während praxisorientierte Gesichtspunkte eines "tourism management" dominierten, stellt der Kieler Historiker fest.
In der Tourismuswerbung waren Bilder von Anfang wichtig. Der Wiener Kunsthistoriker Werner Telesko beschäftigt sich mit Postkarten, Plakaten und anderen Bildmedien. Die Bildpostkarte diente als erstes visuelles Massenmedium, "als Mittel der Imagination, vor Ort zur Orientierung und in der Kommunikation mit den Daheimgebliebenen als Beleg und Nachweis der Anwesenheit."Wenn sie, mehr oder minder künstlerisch verfremdet, Landschaft und Sehenswürdigkeiten darstellten, hatten sie nicht unbedingt die authentische Wiedergabe zum Ziel, viel mehr waren sie "touristische Orientierungshilfe" und Teil der "Bildergalerie der kleinen Leute". Spielte schon bei den Ansichtskarten der Rahmen, die Technik der Montage, eine Rolle, zeigte sich dies noch stärker bei den Plakaten. Als ältestes Beispiel enthält der Beitrag ein Plakat zur Tiroler Landesausstellung des Jahres 1893. Es vereint Darstellungen der Personifikation des Landes, "Tyrolia", Adler, landwirtschaftliche Geräte, das Ausstellungsgelände und Texthinweise, was den Besucher dort erwartete. Außer den Austeilungen waren dies Konzerte, Circus, Radwettfahren und "ein Gesamtbild des Tiroler Volkslebens in Vergangenheit und Gegenwart".
Dass sich letzteres auch jetzt touristisch brauchbar erweist, zeigt der Artikel des em. Wiener Ordinarius für europäische Ethnologie, Konrad Köstlin: "Die Hoferei und 200 Jahre Tourismusgeschichte in Tiroler Museen". Als Beispiele dienen "das Meraner Touriseum als Inszenierung einer Branche" und das neue "Innsbrucker Tirol Panorama als heldischer Entwurf". Dabei wirft der Professor auch einen kritische Blick auf das eigene Fach: "Gerade in modernen Gesellschaften ist das Erzählen mit den Inhalten der (weit gefassten) Folklore wichtig. Darin liegt die grandiose Brauchbarkeit der Volkskundler, Historiker und Ethnologen. Sie praktizieren die kultische Wiederholung im Jubiläum, das sich gegen den Verfall wehrt. Was bei anderen Magie oder Religion heißt, firmiert bei uns als Forschung, Diskurs, Kommunikation und Kunst."
Zwei Beiträge beschäftigen sich mit dem heutigen Ungarn. Alexander Vari (Scranton, USA) untersucht "Binnentourismus und Nationswerdung auf der Budapester Millenniums-Ausstellung 1896". Sein "zentrales Argument lautet, dass die Werbung des Ausstellungstourismus einen entschiedenen Faktor für die ungarische Nationswerdung darstellte. Ein Ausstellungsdorf zeigte im Freigelände 20 Gebäude in regionalen Baustilen. Ein historischer Festzug bewegte sich von Buda nach Pest. 1000 Adelige und Repräsentanten aus 89 Landkreisen auf Pferden und in zeremoniellen Gewändern, Trachten aus vorhabsburgischer Zeit ließen sich von hunderttausenden Zuschauern bewundern. Die feierliche Eröffnung und der Abschluss der Ausstellung fanden im Beisein des Königs von Ungarn, Franz Joseph, und Mitgliedern des Herrscherhauses statt, die in ungarischer Nationaltracht erschienen.
Sandor Bösze (Somogy, Ungarn) beschäftigt sich mit der Badekultur und den Badevereinen als Träger des Tourismus am Süd-Balaton zwischen 1890 und 1944. Als man den Plattensee in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts für den Tourismus entdeckte, gab es nur zwei Orte mit entsprechender Infrastruktur (Füred und Keszthely). Um die Jahrhundertwende gab bestanden 58 "Badevereine", um die Interessen der Badegäste zu vertreten. Sie kümmerten sich u. a. um Hygiene, Verkehrsverbindungen und Sportangebote. Bis dahin hatten fast alle Anrainer von der Landwirtschaft gelebt, der Aufschwung des Badelebens brachte große Veränderungen. Gewerbe und Handel entwickelten sich, die Bauern konnten ihre Produkte besser verkaufen, viele Männer fanden als Taglöhner bei Bauprojekten Arbeit. Die Dorfbevölkerung änderte ihre Gewohnheiten: "… sogar die Dienstbotinnen … tragen Hüte und Mützen anstatt Kopftücher. Die Wiege ist aus der Mode gekommen, statt dessen gibt es Kinderwagen" , wie ein Pfarrer klagte. Es entstanden Villensiedlungen, die z. T. bis heute die Ortsbilder prägen.
Andere Teile des Habsburgerreiches sind weniger im Bewusstsein. Vor mehr als einem Jahrhundert wurden sie teilweise als binnenexotische Reiseziele beschrieben. So widmet sich Christoph Mick (Warwick, Großbritannien) Galizien unter dem Titel "Reisen nach 'Halb-Asien', Andrei Corbea-Hoisie (Iasi, Rumänien) schildert "Die Bukowina und Czernowitz - hybrider Kulturraum und Faszinosum". Sogar Dalmatien galt im 19. und frühen 20. Jahrhundert als "halb-kolonial und halb-orientalisch", wie Peter Stachel (Wien) schreibt. Hingegen galten die kroatischen Seekurorte für die Österreicher als "unsere Adria". Peter Jordan (Wien) liefert die Rangliste der Kurorte des Jahres 1912: 1. Karlsbad 68.000 Gäste, 2. Abbazia - 48.000, 3. Marienbad - 33.000, 4. Baden bei Wien und Meran - je 32.000, 5. Lovrana und Lussinpiccolo - je 12.000 - 6. Brioni - 3.000.
Das Buch enthält noch eine Reihe weiterer Artikel, die vieles Wissenswerte bieten: "Reisebeschreibungen in der 'Südmark' und die Idee der deutschen Diaspora nach 1918" von Pieter M. Judson (Florenz, Italien), "Das edle Bedürfnis sich zu bereichern. Der Werdegang der Krakauer Kommune zum Tourismuszentrum (1870-1939)" von Hanna Kozinska-Witt (Rostock, Deutschland), "Bosnische Impressionen. k. k. Soldaten als Tourismuspioniere vor dem Ersten Weltkrieg" von Dieter J. Hecht (Graz), "Die Geburt Bratislavas auf Seiten der lokalen Stadtführer" von Jozef Tancer (Bratislava, Slowakei), "Orte der Selbstpositionierung. Deutsche und tschechische Wandervereine in den böhmischen Ländern vor 1945" von Martin Pelc (Opava, Tschechische Republik) und "Prag in deutschen und tschechischen Reiseführern 1850-1945" von Martina Thomsen (Kiel, Deutschland).