Inge Friedl: Alte Kinderspiele einst und jetzt #
Inge Friedl: Alte Kinderspiele einst und jetzt. Mit vielen Spielanleitungen. Böhlau Verlag Köln, Weimar, Wien, 2015. 235 S. ill., € 24,90
Die Historikerin und Museumspädagogin Inge Friedl hat sich schon in vielen Büchern mit der Welt von Gestern beschäftigt. Diesmal geht es um alte Kinderspiele - wie immer kompetent und klar gegliedert. Einen roten Faden gibt das berühmte Kinderspielbild von Pieter Bruegel d.Ä. Um 1560 malte der flämische Meister ca. 230 Kinder, die sich mit 90 Spielen beschäftigten. Viele finden sich in diesem Buch, wenngleich sich manche Darstellungen nicht mehr dechiffrieren lassen. Eine zweite Linie bilden die Interviews. Inge Friedl hat sich nicht nur jahrelang mit rund 100 älteren Leuten darüber unterhalten, sondern auch selbst mit ihnen "gekartelt. "Im Schnellsiedekurs lernte ich so 'Schafschädln', 'Eselstreiben' und 'Höllfahren'. … Es war einer der lustigsten Nachmittage meiner Recherchearbeit." Persönliche Erfahrungen und Kommentare wechseln mit den Zitaten ab. Schließlich lernt man die jeweiligen Spielregeln kennen.
Zunächst geht es um den Zeitvertreib im Freien, in der alltäglichen Lebenswelt der Bauernkinder von einst. Auf Wiesen, Bäumen und in Gewässern konnte es gefährlich werden. Aber weder die Kinder noch ihre Eltern sahen darin ein Problem. Die Autorin meint, dass man so von klein auf lernte, Risiken richtig einzuschätzen und damit umzugehen. "Jedes der alten Spiele trainierte auf vielfältige Weise Motorik und Koordination." Es verwundert nicht, wenn manches über den Umweg von Therapie oder Vorschulpädagogik wieder entdeckt wird. Zum Beispiel, wenn ein Kindergarten, nach sorgfältiger Vorbereitung die vorhandenen Spielsachen zehn Wochen "auf Urlaub" schickt. Die Auswirkungen auf die Kinder waren durchwegs positiv.
Mit viel Phantasie entstanden früher aus Tannenzapfen und anderen Naturmaterialien Requisiten, mit denen sich die Kleineren stundenlng beschäftigen konnten. Derer gab es viele im Dorf, Geschwister und Nachbarskinder. Die nächste Stufe war dann das selbst gemachte Spielzeug, wie Rindenpfeiferl oder Fetzenpuppen. "Besondere" - gekaufte - Spielwaren konnte man auf den Wunschzettel für das Christkind schreiben, das sich aber selten daran hielt. Eher verschwand eine Puppe vor Weihnachten, um dann unter dem Christbaum, renoviert und neu eingekleidet, wieder zu erscheinen.
Kaum zu glauben, wie aufregend "Laufen und Fangen" sein konnte. "Solche Fluchtspiele vereinigen vieles, was Kinder lieben: Laufen, Fangen, Rollenspiele und die Dramatik guter, spannender Geschichten." Harmlos waren die Geschichten nicht. Schwarze Pädagogik ("Schwarzer Mann") kam dabei ebenso zum Tragen, wie Schadenfreude und Ausgrenzung ("Schwarze Köchin") oder Gewalt ("Plumpsack"). Die Autorin versucht die Ehrenrettung mit Uminterpretationen und historischen Erklärungen. Der mit Blei gefüllte Plumpsack war ein Mittel des Strafvollzugs, er wird durch ein geknotetes Tuch ersetzt.
Dagegen war und ist "Hüpfen und Springen" ein Spaß. Das sei "Freude und Lebenslust pur", schreibt Inge Friedl, die Spiele dieser Kategorie zu den ältesten zählt. Auch Bruegel bildete Buben beim Bockspringen ab. Mädchen pflegten eher das Tempelhüpfen mit seinen komplizierten, heute fast vergessenen Spielregeln. "Suchen und Verstecken" war eine weitere beliebte Unterhaltung im Freien. Auch "die alten Wurfspiele sind eine Wiederentdeckung wert", meint die Autorin. Sie verschweigt nicht, dass Feitelpecken (Taschenmesser werfen) und Putschögln (mit drastischen Versen auf Pflöcke zielen) gefährliche sportliche Betätigungen für Burschen waren. Gesprächspartnerinnen erzählten ihr nur, dass sie als Mädchen versucht hatten, mit selbst geflochtenen Weidenkränzen ein Ziel zu treffen. "Von Kinderreimen und kleinen Spielen" handelt das nächste Kapitel. Da kommen das einst beliebte Fadenspiel und die "Goldene Brücke" vor.
"Raten und nachdenken" sollte man beispielsweise bei "Grad oder ungrad". Dabei galt es zu erraten, ob der andere Spieler eine gerade oder ungerade Anzahl von Gegenständen mit der Faust umschloss. Bruegel hat das abgebildet und noch bis ins 20. Jahrhundert verdienten Wiener Hausierer damit ein wenig Geld. Jedenfalls standen die Chancen 50:50. "Sprachspiele und Zungenbrecher" boten zugleich Unterhaltung und "Gehirnjogging". Karten- und Brettspiele ersetzten das Fernsehen. Am Feierabend trafen sich die bäuerlichen Nachbarn zum Schnapsen, Preferanzen und ähnlichem. Die Kinder lernten es beim Zuschauen. Das Grobe und Derbe kommt ganz zum Schluss. Hobeln, Raufen, Hackelziehen und Spöttereien waren "alte Bauernspiele, bei denen die Burschen ihre Geschicklichkeit zeigen und ihre Kräfte messen konnten …" und eine gute Gelegenheit, die Mädchen zu beeindrucken. Manche Vergnügungen, die früher dem Zeitvertreib der Erwachsenen dienten, wie "Blinde Kuh" sind in die Kinderwelt abgewandert. Andererseits wuchsen Buben und Mädchen spielerisch in ihre späteren Rollen und Aufgaben hinein: Puppe versus Steckenpferd. Immer wieder weist die Autorin darauf hin, dass die Kinderwelt von einst nicht nur Idyllisch war.
Außer den Texten sind die vielen Bilder interessant, teils historisch - erstaunlich, dass man spielende Kinder des seltenen Fotografierens wert hielt - , teils geschickt nachgestellt. Vor jedem der 15 Kapitel regen Ausschnitte aus dem Bruegel-Gemälde zum Vergleich an, vielleicht sogar zum Ausprobieren.