Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde#
Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde. Reise in die Lutherzeit. Galiani Verlag Berlin 2016. 496 S., ill., € 25,70
2017 wird ein Lutherjahr. Genau ein halbes Jahrtausend ist es her, dass Martin Luther (1483-1546) "seine Thesen - nein, nicht an die Schlosskirchentür genagelt, sondern einem Brief an den Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg beigelegt hat. Das Schreiben an Albrecht trug das Datum des 31. Oktober und war außerdem das erste Dokument, das der geborene Luder mit Luther unterzeichnete."
Der deutsche Sachbuchautor Bruno Preisendörfer lädt zu einer "Reise in die Lutherzeit" ein, wenngleich er feststellt: "Nur auf sich gestellt macht niemand Epoche". Aber in dieser, um 1500, vollzog sich ein Epochenumbruch. "Auf jeder Ebene kam es zu dramatischen Veränderungen: auf der persönlichen, familiären, lokalen, europäischen und globalen. Und doch lebte zwischen dem Neuen überall das Alte fort. Eroberer und Kaufleute stießen zu neuen Welten vor, Theologen zu neuen Glaubensvorstellungen, Wissenschaftler zu neuen Erkenntnissen, Techniker zu neuen Konstruktionen. Aber gleichzeitig war die Mehrheit der Bauern ihren Herren leibeigen, die Mehrheit der Handwerker von ihren Zunftmeistern abhängig und die Gesamtheit der Tagelöhner ihren Auftraggebern ausgeliefert." Obwohl sich das Buch schwerpunktmäßig auf Deutschland konzentriert, gilt vieles auch für Österreich - immerhin waren hierzulande Ende des 16. Jahrhunderts zwei Drittel der Bevölkerung evangelisch. Als Kaiser regierten die Habsburger Friedrich III., bekannt durch sein Symbol AEIOU, und Maximilian I., genannt der letzte Ritter. Ihm folgte sein Enkel Karl V., in dessen Weltreich die Sonne nie unterging. Er wollte die durch die Reformation verursachte religiöse Spaltung überwinden, doch scheiterten seine Bemühungen. Mit dem Augsburger Religionsfrieden akzeptierte er das Nebeneinander der Konfessionen. 1556 resignierte Karl V. auf seine Herrscherämter und zog sich in das spanische Kloster San Jerónimo de Yuste zurück, wo er zwei Jahre später starb.
Die großen Eroberungen, Entdeckungen und Erfindungen lagen damals schon etliche Jahrzehnte zurück, wirkten sich aber massiv aus. 1543 erschien in Nürnberg die Abhandlung "Über die Bewegung der Himmelskörper", verfasst vom Domherrn und Mathematiker Nikolaus Kopernikus. Das Revolutionäre daran war die Erkenntnis, dass sich die Erde um die Sonne dreht, und nicht wie bisher angenommen, umgekehrt. Himmels- und Erdgloben wurden angefertigt. Man hielt die Welt für kleiner, als sie ist. Der Irrtum ermutigte Seefahrer und Händler, auf Expeditionen ihr Glück zu versuchen, und "Sein Glück machen, hieß Beute machen". Gewürze, Edelmetall und Sklaven waren die wichtigsten Handelsgüter in jener "Urphase der Globalisierung".
Bekanntlich übersetzte Martin Luther im Herbst 1521 das Neue Testament binnen elf Wochen ins Deutsche, danach bis 1534 gemeinsam mit Professoren-Kollegen das Alte Testament. Luther strebte mit seinem Frühhochdeutsch Allgemeinverständlichkeit an, daher vermied er Dialekte wie auch Hofsprache und Militärjargon. Es heißt, dass ein Drittel der lesekundigen Deutschen die Lutherbibel besaß, allerdings beschränkte sich deren Kreis auf 5 % der Bewohner. Die epochemachende Erfindung von Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg - der Buchdruck mit beweglichen Lettern aus Blei, Zinn und Antimon und der Druckerpresse - war schon um 1450 erfolgt und wenig später die berühmte Gutenberg-Bibel erschienen. Zwei Generationen später kam die Medienrevolution Martin Luther zugute.
Der ehemalige Augustinermönch ist als Sprachschöpfer, Reformator und Prediger berühmt. Weniger sympathisch klingt für moderne Zeitreisende, dass er "mit Kanzelworten den Teufel an die Kirchenwand malte" oder die Bauern verachtete. Die Renaissance war die Zeit der Bauernkriege, und der Prediger auf Seiten der Obrigkeit. Den unterschiedlichen - und in sich abgestuften Ständen - sind mehrere der 13 großen Kapitel der Zeitreise gewidmet: Kaiser, Kurfürsten, Ritter, Burgbewohner, Landsknechte, Patrizier, Händler, Bürger, Studenten, Meister und Gesellen, Landleute … Man lernt sie in ihrem Alltag, ihren Freuden und Ängsten kennen. Häuslichkeit, Ernährung, Kleidung, Frauen, Männer und Kinder, Leiblichkeit, sowie Alter, Tod und Auferstehung werden detailreich geschildert. Ebenso die "Wetternöte". Genau listet der Autor die Hungerjahre der kleinen Eiszeit auf, des im 16. Jahrhundert von kurzfristigen Schwankungen geprägten natürlichen Klimawandels. Sie gaben, ebenso wie die Pest, den um 1500 weit verbreiteten Weltuntergangsbefürchtungen Auftrieb. Dürers Apokalypse entstand um diese Jahrhundertwende, Hieronymus Bosch malte seinen an Symbolen und Dämonen reichen "Garten der Lüste". Kein Wunder auch, dass man Sündenböcke für die missliche Lage suchte, seien es Juden oder "Hexen".
Während Publikationen über das vermeintlich finstere Mittelalter- und nachempfundene Feste jener Zeit - Konjunktur haben, scheinen Beschreibungen der Alltagskultur der folgenden Epoche rar. Das vorliegende Werk schließt diese Lücke. Fast 400 Seiten umfasst der Textteil, weitere 100 der erklärende Anhang, dazu kommen noch Bildtafeln. Die Texte sind spannend geschrieben, gewissenhaft recherchiert, mit vielen Originalzitaten versehen. Dennoch würde man sich einige Textillustrationen wünschen, umso mehr, als der ansprechend gestaltete Umschlag Kostproben zeitgenössischer Holzschnitte gibt. Bruno Preisendörfer macht seine Reisegefährten nachdenklich. Wenn es manchmal auch schwer fällt, sich in die Gedankenwelt zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit zu versetzen, drängen sich doch Parallelen zu einer oft als apokalyptisch empfundenen Zeit auf.