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Christina Schachtner: Das narrative Subjekt #

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Christina Schachtner: Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets. Transcript Verlag Bielefeld 2016. 248 S., ill., € 32,99

"Wenn ich mir denke, die Leute, die jetzt erwachsen sind, haben keine festgeschriebene Vergangenheit. Man kann eigentlich im Internet nichts über sie herausfinden, weil's das Internet noch nicht so lange gibt, " überlegt eine Angehörige der - zwischen 1985 und 2000 geborenen - "Generation Y". Sie selbst sieht hingegen ihre Vergangenheit im Internet festgeschrieben, und es klingt, als würde sie dies ein wenig bedauern. Die 19-Jährige war eine von 33 BlogerInnen zwischen elf und 32 Jahren, aus elf Ländern, die für das FWF-Projekt "Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace" interviewt wurden. Leiterin der Studie war Christina Schachtner, Professorin für Medienwissenschaft an der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Außer aus Österreich kamen die TeilnehmerInnen aus Bahrain, Deutschland, Italien, Jemen, Saudi-Arabien, Schweiz, Türkei, Ukraine, USA, Vereinigte Arabische Emirate. Ausgangspunkt war die Frage: Welche Geschichten erzählen Menschen, die digitale Medien als Instrumente und Bühnen des Erzählens nutzen oder sie zum Gegenstand des Erzählens machen? Die erste Hälfte von Christina Schachtners kulturwissenschaftlicher Reflexion über neue Aspekte der Alltagskultur führt theoriebetont in das Thema ein.

Der zweite Teil bringt, mit vielen Zitaten, die Auswertung der Ergebnisse. "Überwiegend enthalten die Interview eine dominierende Geschichte" , doch musste die Forscherin diese erst aus "narrativen Puzzlestücken" zusammenfügen. Dabei fand sie sechs Typen von Geschichten. Bei "Vernetzungsgeschichten" steht das kommunikative Verbundensein mit anderen NetzakteurInnen im Vordergrund. Sie wollen "Zeigen und Austauschen", wobei die TeilnehmerInnen aus dem arabischen Raum der Welt ein anderes Bild ihrer Region vermitteln wollen als die offiziellen Medien. Ein zweites wichtiges Motiv in dieser Gruppe ist "Sehen und Gesehen-Werden". Schließlich ist das Teilen (Sharing) von Bedeutung. Dabei gilt, nicht nur für einen 21-jährigen amerikanischen Studenten: "Fern von seinem Heimatort ist Facebook eine unverzichtbare Bühne, um sein Leben mit anderen zu teilen."

In "Selbstinszenierungsgeschichten" wird das eigene Ich absichtsvoll in Szene gesetzt. "Fragen des Zeigens und Nicht-Zeigens sind zentral. "Diesen Typus fand die Forscherin nur bei europäischen NetzakteurInnen. Für den "bewunderten Star" spielen Stolz und Machtspiele eine Rolle. Im virtuellen Raum lassen sich Wünsche gut ausleben. Andere BloggerInnen sind "Modell und Suchender zugleich". Ihr Ich ist "auf dem Weg in eine bessere, offene Zukunft". Ein 23-Jähriger gab an: "Mein Blog ist im Prinzip eigentlich 24 Stunden am Tag Arbeit". Mit diesem Aufwand steht er nicht allein da. Drei junge Frauen zwischen 21 und 24 Jahren, die in die Kategorie "Gegenmodell" fallen (Das reale ist vom angestrebten Ich noch weit entfernt) widmen ihrer Online-Präsenz täglich bis zu vier Stunden Zeit. Dafür erhoffen sie sich Anerkennung und freundliche Kommentare von ihrem Publikum. Diese Motive spielen überhaupt die wesentliche Rolle.

Bei der Kategorie "HändlerInnen- und VerkäuferInnengeschichten" geht es nicht nur um Zeitvertreib, sondern auch um Honorare bzw. Gratisprodukte. Mit den Mitteln digitaler Technik werden eigene oder Produkte von Unternehmen präsentiert und empfohlen. So testet ein 14-Jähriger technische Geräte und stellt seine Erfahrungsberichte online. Nicht nur Gegenstände und Designerwaren sind im Angebot, sondern auch Mitmachprojekte. Für eine 22-jährige Bloggerin bedeutet das, täglich 355 Blogs zu lesen und viele zu vernetzen.

Die vierte Kategorie nennt Christina Schachtner "Grenzmanagementgeschichten". Hier stehen Grenzen des Nachdenkens und Handelns im Mittelpunkt. "Die Technik digitaler Medien hat die bekannten geografischen und materiellen Grenzen hinweggefegt und den virtuellen Raum zu einem grenzenlosen Raum gemacht. Doch nur scheinbar" , weiß die Medienwissenschafterin. Eine wichtige Grenze für die AkteurInnen ist jene zwischen Privatheit und Öffentlichkeit. So erfuhr eine 27-Jährige aus Saudi-Arabien, dass es gefährlich werden kann, gesellschaftlich-kulturelle Grenzen zu überschreiten. Sie bezeichnet sich als "100 % an internet person" und hat das Netz schon mit 14 benutzt. Bald tauschte sie ihr Tagebuch gegen den Computer und bloggt nun täglich. Auch eine Europäerin begann ihre Internet-Präsenz mit 14, einige Jahre später wurde ihr bewusst, dass sie manches besser nicht hätte preisgeben sollen. Damals war sie "wirklich süchtig danach", nun sucht sie die richtigen Grenzen, die vor unerwünschtem Zugriff schützen, ohne das Potential einer neuen Öffentlichkeit zu tilgen.

Die fünfte Gruppe sind "Verwandlungsgeschichten". Ihr Fokus sind die Veränderung von Lebensphase und Identität. Hier begegnet man den "Zielstrebigen", wie einem elfjährigen und einem 13-jährigen Deutschen, deren Ziel es ist, ein berühmter Fußballstar bzw. ein selbstbestimmter Erwachsener zu werden. Zur Zeit des Interviews waren sie gerade dabei, sich vom SWR-Kindernetz (ein seit 1997 vom Südwestdeutschen Rundfunk angebotenes Portal für Kinder von acht bis 14 Jahren) zu verabschieden. Eine Zwölfjährige erzählte, sie sei dabei, weil es ihr die Möglichkeit böte, ganz verschiedene Rollen auszuprobieren. Das erleichtert ihr den Übergang in das Jugendalter, das zum Erwachsensein führt. Schließlich wurden "Auf- und Ausbruchsgeschichten" erzählt, in denen Auf- und Ausbrüche als biografische bzw. politische Projekte von Bedeutung sind.

Als narrative Zeitsignaturen verweisen die Geschichten auf Fragen, Bedürfnisse, Ängste und Sehnsüchte, mit denen sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in verschiedenen Kontinenten angesichts des weltweiten gesellschaftlich-kulturellen Wandels konfrontiert sehen. Stichworte: Enttraditionalisierung, Pluralisierung, Entgrenzungen, Individualisierung, "Global flows", Crossover, Hybridität. In Deutschland verwenden 100 % der 14- bis 19-Jährigen und 98 % der 20- bis 29-Jährigen das Internet. Ältere, die sich schwer tun, die Begeisterung dafür zu verstehen, finden in diesem Buch eine Fülle neuer Denkanstöße. Nach der Lektüre werden sie die Vorliebe für die virtuellen Welten der Generation Y besser verstehen. Die Jungen können in dem Spiegelbild viel Interessantes entdecken. Die Beschäftigung mit dem "Erzählen im Zeitalter des Internets" lohnt sich für alle.