Manfred Vasold: Hunger, Rauchen, Ungeziefer#
Manfred Vasold: Hunger, Rauchen, Ungeziefer Eine Sozialgeschichte des Alltags in der Neuzeit. Franz Steiner Verlag Stuttgart 2016. 424 S., ill., € 29,-
Alltagskultur war in den 1970er Jahren "das" Thema der Europäischen Ethnologie. Das Fach, das damals noch Volkskunde hieß, erforschte die Lebensweise der Arbeiter und sozialen Unterschichten. Auch die Historiker entdeckten das Alltägliche als Thema. Oral History-Projekte und Autobiographien sollten die Lebensumstände der einfachen Leute festhalten, "damit es nicht verlorengeht". Museen durchforsteten ihre Depots und fanden bei den Textilen mehr Festtagstrachten als Alltagskleidung. Diese wurde so lange wie möglich getragen, schließlich zum Putztuch, aber nicht zum Museumsstück. Unterwäsche suchte man vergebens, sie kam erst mit der Verbreitung der Baumwolle im 19. Jahrhundert langsam auf.
Trotz vieler Erkenntnisse blieben Fragen offen. Der Historiker und Autor Manfred Vasold beantwortet sie detailreich in seinem neuen Buch. Vor allem beleuchtet er die Schattenseiten der gar nicht so guten, alten Zeit. Als Medizinhistoriker interessierten ihn vor allem Themen wie Kindersterblichkeit, Berufskrankheiten oder Epidemien samt ihrem Auslöser, dem Ungeziefer. "Vor dem Jahr 1800 starb fast ein Drittel der Neugeborenen im Säuglingsalter … nur eines von zwei Neugeborenen erreichte seinen 15. Geburtstag." , schreibt er über die Verhältnisse in Deutschland und zitiert einen Demographen des 18. Jahrhunderts, der feststellte, dass von 1000 Kindern auf dem Lande 390 ihren 5. Geburtstag nicht erlebten, in der Stadt sogar 478. Diese Zahlen stiegen mit der Industrialisierung noch weiter an. Ausgemergelte Arbeiterinnen konnten ihre Babies nicht stillen und die hygienischen Verhältnisse waren trist. Mit der Erfindung neuer Produkte entstanden auch neue Berufskrankheiten, wie Atrophie des Kiefers bei der Zündholzerzeugung mit rotem Phosphor. Wer mit der Herstellung von Spiegeln beschäftigt war, den bedrohte eine Quecksilbervergiftung. Bis ins 19. Jahrhundert war das Belegen mit Quecksilber das einzige Verfahren der Spiegelglasherstellung. Nur waren Spiegel kein Luxusgut mehr, sondern als Massenprodukt ein gutes Geschäft für Fabrikanten, vor allem in Bayern.
Nicht nur das Gewinnstreben einiger führte zur Verelendung vieler. Auch witterungsbedingte Missernten und Naturkatastrophen verursachten Hungerjahre, wie mehrere Vulkanausbrüche im 19. Jahrhundert. 1815 war es der Mount Tambora, ein aktiver Stratovulkan auf der östlich von Java gelegenen Insel Sumbawa in Indonesien. Tagelang hörte man noch in 500 km Entfernung die Explosionsgeräusche. Die Langzeitfolgen waren auch im fernen Europa verheerend. Die Sonneneinstrahlung auf die Erde verminderte sich, kalte Winter, nasse Sommer und lang andauerndes Dämmerlicht machten den Menschen zu schaffen. Mit Statistiken belegt der Autor die Konsequenzen auf die Preise von Getreide und Brot, steigende Lebenshaltungskosten und Massenarmut.
"Das Leben der einfachen Leute war immer schwer … Bei jährlichen Arbeitszeiten, die oft doppelt so lang waren wie heute, ruinierte manch einer seine Gesundheit. Wie tragisch, wenn noch ein tödliches Laster zur großen Mode wird: Tabak, geschnupft oder geraucht, beruhigte in turbulenten Zeiten die Nerven. Aber dann packt die Sucht zu…", schreibt Manfred Vasold. "In der Geschichte des Alltags, gerade dort wo es um die Befriedigung der Grundbedürfnisse geht, hat es gewaltige Veränderungen gegeben. Das Buch erzählt von den Menschen und wie sie sich in ihrer Umwelt - und gegen ihre Umwelt - zu behaupten versuchten. Es erzählt über die Zeit vor, nach und während der Industrialisierung, ein wenig auch von der Zeit danach."
Das faktenreich recherchierte Buch macht nachdenklich. Seit den Anfängen der Industrialisierung sind kaum zwei Jahrhunderte vergangen, doch die Lebensumstände haben sich seither mehr verändert als in tausend Jahren davor. Prognosen, wie es weitergeht, sind nicht mehr Sache der Historiker.