Walter Öhlinger: Rundblick vom Stephansturm#
Walter Öhlinger: Rundblick vom Stephansturm. Panorama von Wien im Jahre 1860
Edition Winkler-Hermaden, Schleinbach. 56 Seiten mit 12 großformatigen ausklappbaren Fotografien. Als Beigabe ein Stadtplan von 1858 im Format von 66 x 80 cm mit dem Titel: „Innere kais. königl. Haupt- und Residenzstadt Wien mit den Glacis-Gründen reducirt nach der Original-Aufnahme des k. k. Catasters vom Jahre 1858“. € 49,90
Der Abbrucharbeiten der Stadtbefestigung ist in vollem Gange, Rotenturm- und Biberbastei sind schon demoliert, Das Glacis, die vorgelagerte, unverbaute Fläche, ist noch erhalten. Es diente nicht nur militärischen Aufgaben, sondern auch als parkähnliches Erholungsgebiet für die Bevölkerung. Bald sollte an seiner Stelle die Ringstraße entstehen.
Um 1860 befand sich Wien im bis dahin größten Umgestaltungsprozess - dokumentiert von Pionieren der damals noch jungen Fotografie. "Zu den bedeutendsten Inkunabeln der Österreichischen Photographie" zählte der Foto- und Kunsthistoriker Heinrich Schwarz den "Rundblick vom Stephansturm". Er entstand im August 1860, als die Turmspitze renoviert wurde, von einem Baugerüst in 133 Metern Höhe. Ein Fotograf der k. k. Hof- und Staatsdruckerei fertigte die zwölf 77 x 73 cm großen Aufnahmen an. Davon sind drei Serien erhalten, die nach fast 70 Jahren erstmals publiziert wurden. Herausgeber war der Germanist Eduard Castle, der auch die Werke bedeutender österreichischer Dichter edierte. Er ergänzte die Drucke der Bilder durch transparente Zwischenblätter mit den Ortsbezeichnungen.
Verdienstvollerweise hat die Edition Winkler-Hermaden das Panorama neu aufgelegt. Die nun schon zweite Auflage enthält die zwölf "Salzpapiere", und jeweils gegenüber die Skizzen Castles zur Orientierung. Für die Texte hat der Verlag einen bewährten Autor engagiert. Walter Öhlinger, Kurator für Stadtgeschichte im Wien-Museum, hat hier auch schon andere prominente Kartenwerke herausgegeben, wie die Vogelschau von Wien (1778), Perspectiv-Karten (um 1830) oder das Rundpanorama von Wien (1855). Der Historiker kommentiert die traditionellen Darstellungen kompakt und kompetent.
Die Aufnahmen, die zu den größten aus der Pionierzeit der Fotografie gehören, ergeben ein beinahe geschlossenes Rund-um-Panorama Wiens. Als solches arrangiert, fanden sie auf Ausstellungen internationale Bewunderung. Vom Stephansturm blickt der Betrachter auf das Häusermeer der Inneren Stadt mit den schluchtenartigen Straßen und erkennt die Vorstädte und Vororte mit ihren markanten Gebäuden. Begrenzt wird der Ausblick von den Wienerwaldbergen und den Auwäldern der unregulierten Donau. Abgesehen von ihrem unschätzbaren historischen Wert stellen die Fotos eine technische Meisterleistung dar. Die - mit Stativ 2 m hohe - "Petzvals große Kamera" arbeitete mit dem "nassen Kollodiumverfahren". Es ermöglichte großformatige, gestochen scharfe Bilder bei einer Belichtungszeit von unter einer Sekunde. Dabei musste der Fotograf schnell sein, die Platten unmittelbar vor der Aufnahme beschichten und im mitgebrachten Dunkelkammerzelt umgehend entwickeln.
Ansicht 1 hat die Blickrichtung nach Osten, Richtung Josefstadt und Alsergrund. In der Innenstadt dominiert die Kuppel der Peterskirche. Bei Ansicht 2 (Blickrichtung Alsergrund) schwenkt die Kamera nach Nordosten. In der City erkennt man das Schottenkloster, jenseits des Glacis die Schwarzspanier- und die Servitenkirche. Auf Ansicht 3 (Blickrichtung Alsergrund und Leopoldstadt) fällt der Blick über den stadtseitigen Donauarm nach Norden. Kahlen- und Leopoldsberg begrenzen den Horizont. Ansicht 4 zeigt nach Nordnordosten (Blickrichtung Leopoldstadt), der Augarten mit seinem Palais wird sichtbar. Ansicht 5 (Blickrichtung Leopoldstadt und Prater) wendet sich nach Ostnordosten. Regensburgerhof, Köllnerhof und Heiligenkreuzerhof sind nun im Zentrum des Altstadtviertels im Vordergrund. Bei Ansicht 6 (Blickrichtung Leopoldstadt und Landstraße) schaut man fast genau nach Osten. Damit gelangt das Alte Universitätsviertel rund um die Jesuitenkirche in die Reichweite der Kamera.
Ansicht 7 (Blickrichtung Landstraße und Prater) liegt die Blickachse zwischen Osten und Ostsüdosten. Die Wollzeile und ihre Verlängerung, die Landstraßer Hauptstraße, durchziehen das Bild als schräge Linie. In der alten Vorstadt Erdberg am Horizont kündigt sich das Fabrikszeitalter an. Ansicht 8 geht wieder in Blickrichtung Landstraße. Wienfluss und Stadtpark bilden die optische Mitte, eine Reihe öffentlicher k.k. Gebäude sind diesseits und jenseits situiert, wie die Staatsdruckerei, Invalidenhaus, Stuckbohrerei oder die Rennwegkaserne. Auf Ansicht 9 (Blickrichtung Landstraße und Wieden), nach Südsüdosten, rücken Franziskanerkirche und -kloster ins Zentrum des Vordergrundes. Freie Flächen bilden die Gärten der Palais Modena und Metternich im Bezirk Landstraße. Bei Ansicht 10 fällt der Blick nach Südsüdwesten Richtung Wieden und Mariahilf. Markant erhebt sich der achteckige Turm der Annakirche in der Bildmitte, schräg gegenüber jenseits des Glacis die Karlskirche und am linken Bildrand das Schwarzenbergpalais, dahinter der in den 1840er Jahren errichtete Bahnhof. Für Ansicht 11 (Blickrichtung Mariahilf) wurde der Apparat nach Südwesten ausgerichtet. Den Vordergrund bildet die Kärntner Straße mit ihrer Bebauung, wie sie bis in die 1890er Jahre bestand. An dieser Straße befand sich der Komplex des Bürgerspital-Zinshauses, das sich bis zum Lobkowitzplatz erstreckte. In diesem größten Miethaus der Altstadt wohnten bis zu 3000 Menschen. Über den Naschmarkt geht der Blick zum südlichen Wienerwald. Schließlich weist Ansicht 12 (Blickrichtung Mariahilf und Josefstadt) nach Westen. Die City ist durch die zwischen Graben und Hofburg verlaufenden Gassen, wie den Josefsplatz, charakterisiert. Gegenüber der Kaiserlichen Burg planten Vater und Sohn Fischer von Erlach die Hofstallungen, links dahinter ist die Stiftskaserne zu erkennen. Als Vorstadtkirchen ragen St. Ulrich, Schottenfeld und Altlerchenfeld heraus.
Ergänzend zur Vogelschau bietet der beigelegte Plan nach den Kataster-Aufnahmen von 1858 Orientierung. Ende 1857 hatte Kaiser Franz Joseph I. seine Entscheidung zur „Auflassung der Umwallung und Fortifikationen der Inneren Stadt, so wie der Gräben um dieselbe" veröffentlicht und den Bau eines Boulevards, der Ringstraße, angeordnet. Mit den Skizzen von 1929 und den informativen Kommentaren des Herausgebers Walter Öhlinger entsteht so ein umfassendes Bild der letzten Tage des "Alten Wien". Für den Dichter Anton Wildgans (und nicht nur für ihn) war dieses ein Sehnsuchtsort. Er nannte das Panorama "ein Dokument, das … die Möglichkeit von Empfindungen und Vorstellungen gibt, stark und lebhaft …"