Christoph Thun-Hohenstein, Kathrin Pokorny-Nagel (Hg.): Ephemera#
Christoph Thun-Hohenstein, Kathrin Pokorny-Nagel (Hg.): Ephemera. Die Gebrauchsgrafik der MAK-Bibliothek und Kunstblättersammlung. Mit Texten von Thorsten Baensch, Heinz Decker, Bernhard Denscher, Yasmin Doosry, Brigitte Felderer, Ingrid Haslinger, Claudia Karolyi, Annette Köger, Anita Kühnel, Kathrin Pokorny-Nagel, Teresa Präauer, Raphael Rosenberg, Anne-Katrin Rossberg, Stefan Sagmeister, Thomas Schäfer-Elmayer, Frieder Schmidt, Raja Schwahn-Reichmann, Elfie Semotan, Dieter Strehl und Christoph Thun-Hohenstein. MAK / Verlag für moderne Kunst, Wien 2017. Deutsch/Englisch, 464 Seiten, 600 Farbabbildungen. € 58,00
Ephemeres ist nur für einen Tag bestimmt, so die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes. Im Zusammenhang mit Drucksorten verwendet man es seit dem 18. Jahrhundert. Von damals bis zur Gegenwart reicht der Gebrauchsgrafik-Bestand der Bibliothek und Kunstblättersammlung des Museums für Angewandte Kunst in Wien (MAK), der größten Kunstbibliothek Österreichs. Sie umfasst u. a. Brief- und Buntpapier, Buchumschläge, Einladungen, Eintrittskarten, Etiketten, Exlibris, Glückwunschkarten, Lesezeichen, Menükarten, Reklamemarken, Spielkarten, Tanzordnungen, Tischkarten Visitenkarten und Werbematerial. In einem langjährigen Forschungsprojekt wurden die Objekte katalogisiert, die Ergebnisse sind online abrufbar. Trotzdem will man die Reproduktionen nicht nur digital bewundern, sondern auch physisch greifbar haben. Diesen Wunsch erfüllt das vorliegende Werk in höchstem Maße. Als Herausgeber zeichnen MAK-Generaldirektor Christoph Thun-Hohenstein und die Leiterin der Bibliothek und Kunstblättersammlung, Kathrin Pokorny-Nagel, verantwortlich. Ihnen und den MitarbeiterInnen an diesem ganz besonderen Buch kann man dazu nur gratulieren. Die Ausstattung mit Vorsatzpapieren, Farbschnitt und exzellenter Gestaltung fügt sich kongenial zu den essayistischen und wissenschaftlichen Texten samt Bildbeispielen. Für sieben der acht Kapitel hat sie Anne-Katrin Rossberg "Aus der Sammlung" ausgewählt und beschrieben.
Die Schriftstellerin und bildende Künstlern Teresa Präauer hat die Faszination künstlerisch bedruckten Papiers treffend charakterisiert. Der einleitende Essay der Grafiker-Tochter schildert "Die ewige Liebe zum Vergänglichen". "Für den Augenblick und manchmal … für eine halbe Ewigkeit geschaffen" nennt der deutsche Museumsdirektor Frieder Schmidt Buntpapiere. Die Vielfalt der Beispiele reicht vom geprägten Brokatpapier aus der Barockzeit über Kleisterpapier und Entwürfe im Jugendstil bis zu Verpackungen für Orangen aus den 1960er Jahren.
Unter dem Begriff "Glückwunschkarten - Briefpapier" sind so unterschiedliche Produkte wie Biedermeier-Wunschbilletts, Briefbogen aus dem 19., Gelegenheitskarten und Geschäftspapiere aus dem 20 Jahrhundert zusammengefasst. Nur ein Jahrhundert, aber Welten, liegen zwischen den verspielten Biedermeierbilletts und der reduzierten modernen Gebrauchsgrafik. Namhafte Künstler, auch der Wiener Werkstätte, entwarfen im 20. Jahrhundert Geschäftspapiere. 1400 Muster aus acht Jahrzehnten stammen aus dem Archiv der 1898 gegründeten Wiener Druckerei August Chwala.
Spielkarten verbreiteten sich seit dem 14. Jahrhundert in Europa. Sie dienten der Unterhaltung und Belehrung (wie Quartettspiele), aber auch zum Wahrsagen und sogar als Visitenkarten. Die vorhandenen Symbole ließen sich dann als verschlüsselte Botschaften interpretieren.
Das nächste Kapitel fasst Einladungen, Eintrittskarten, Tanzordnungen, Ballspenden, Tisch- und Menükarten sowie Etiketten zusammen. Hier zeugen vor allem die Ballspenden vom Phantasiereichtum ihrer Entwerfer, unter ihnen Koloman Moser. Dass sie hier zugleich mit Werbeetiketten behandelt werden, ist kein Zufall. Etikett (Hinweisschild) und Etikette (Umgangsformen) haben viel miteinander zu tun. Der Gärtner Ludwig XIV. soll in Versaille Schilder aufgestellt haben, um die Hofgesellschaft am Betreten der Beete zu hindern. Als sich niemand daran hielt, beschwerte er sich beim König, der befahl: "Die Etikette ist zu beachten!". So entstand die "Hofetikette", erfährt man von Thomas Schäfer-Elmayer.
Der deutsche Experte Heinz Decker nennt seine Exlibrissammlung "magische Enzyklopädie". Exlibris sollten als Bucheignerzeichner in eine Publikation geklebt werden. Meist von Künstlern gestaltet, fungierten sie bald als Tausch- und Sammelobjekt. Wien erlebte 1913 "quasi einen Exlibrisfrühling." Zu ihrem Zehnjahresjubiläum zeigte die Wiener Exlibrisgesellschaft im MAK "die vermutlich spektakulärste Ausstellung" dieser Art. 3000 Exponate lockten 20.000 Besucher an. Einer der wichtigsten Sammler war der Verleger Artur Wolf. Er vermachte dem Museum 7700 wertvolle Exemplare.
Kapitel VI. hat ebenfalls mit Büchern zu tun. Es widmet sich Schutzumschlägen und Lesezeichen. Auch hier lernt man viel aus diesem hervorragenden Werk. Wer bedenkt schon, dass es bis ins 19. Jahrhundert gängige Praxis war, gefaltete Druckbögen zu kaufen und selbst in Leder, Leinen oder Marmorpapier binden zu lassen? Der "Aufschneider" aus Karton konnte dann als Lesezeichen dienen. In der Umschlaggestaltung der gebundenen Bücher fanden die Gebrauchsgrafiker später ein weites Betätigungsfeld.
Kapitel VII. ist der Mode gewidmet. Seit 1865 erschien die "Illustrirte Frauen-Zeitung" als Modemagazin mit Schnittmustern in Berlin und Wien in drei Sprachen. Dazu kamen länderweise Ausgaben, gedruckt in Paris, Malmö, Stockholm, Budapest, Jungbunzlau, Prag, Den Haag, Turin, Mailand, Kopenhagen, St. Petersburg, Warschau, Rio de Janeiro, Porto, Madrid Buenos Aires und New York. Das internationale Magazin hatte 400 MitarbeiterInnen und eine Auflage von 300.000 Stück. Wien nahm also in der globalisierten Mode anno dazumal einen wesentlichen Platz ein. Modebilder des 19. Jahrhunderts, Postkarten und Zeitungsinserate aus dem frühen 20. Jahrhundert komplettieren die interessante Darstellung.
Schließlich geht es noch um Werbematerial und Reklamemarken, produziert bis in die 1950er Jahre. Dazu verfasste der langjährige Wiener Kulturamtsleiter Bernhard Denscher das Essay. Der Plakatexperte übertitelt es "Archäologie der Moderne". Kapitel VIII endet mit der Feststellung: "Ephemera sind nicht nur Wegwerfprodukte, sondern durch SammlerInnen und Sammlungen erhalten gebliebene Zeitzeugen." Trotz ihrer Kurzlebigkeit sind diese Drucksorten oft von höchster gestalterischer und technischer Qualität. In ihnen spiegeln sich künstlerische Entwicklungen ebenso wieder wie gesellschaftliche, persönliche und kommerzielle Repräsentationsformen. Der vorliegende repräsentative Band öffnet die Augen für ein meist zu Unrecht übersehenes Stück Alltagsgeschichte.