Simon Hadler: Wirklich wahr!#
Simon Hadler: Wirklich wahr! Die Welt zwischen Fakt und Fake. Illustriert von Stefan Rauter. Deuticke Verlag Wien 2017. 272 S., ill., € 22,70
"Was ist Wahrheit?" fragte Pontius Pilatus laut Johannes-Evangelium (Joh 18,38) Jesus, bevor er ihn zum Kreuzestod verurteilte. "Alles Lüge!" kommentierte im Zweiten Weltkrieg der sowjetische Sender die deutschen Durchhalteparolen. Simon Hadler schrieb ein Buch, in dem es um Wahrheit geht, aber: "Dieses Buch ist kein Buch über die Wahrheit" , sondern "Ein Buch über die Welt der Fakten, wie sie sich uns im Alltag darstellen." Der Autor ist leitender Kulturredakteur bei ORF.at.
Sein Buch widmet sich der Überfülle an Zahlen, Daten und Fakten, die sich nicht leicht einordnen lassen. Mit Statistik kann man bekanntlich alles belegen, doch ist das Gegenteil genau so wahr. Auf einem teils amüsanten, teils erschreckenden Streifzug zeigt der Autor, wie man am besten mit Falschmeldungen, Halbwahrheiten und Hasspostings umgeht. Als ersten Schritt "beim Erarbeiten einer gelassenen Haltung gegenüber medial vermittelten Fakten" empfiehlt er, den Glauben an eine objektive Wahrheit aufzugeben, aber dieser als unerreichbare Idealvorstellung entgegen zu streben. Zweitens frage man sich, wie viel unnützen Mist man sich einprasseln lässt. Dafür verwendet der Autor, der deftige Vokabel nicht scheut, mit dem Philosophen Harry G. Frankfurt den Begriff "Bullshit". Manchmal können auch solche Meldungen Spaß machen, man sollte nur bewusst damit umgehen. Drittens: "Bullshit erkennen". So lange es die vom Autor vehement geforderte Medienkunde nicht als Schulfach gibt, müsse man sich auf den "gesunden Menschenverstand" verlassen. Viertens frage man sich, ob eine Information unmittelbar für das eigene Leben relevant ist. Fünftens gibt es Tipps zur Quellenüberprüfung, wie sie bei Qualitätsmedien üblich ist (oder zumindest sein sollte).
ORF.at zählt zu den Qualitätsmedien, doch vermitteln auch solche "ein falsches Bild der Welt, weil sie ihren Fokus zum allergrößten Teil auf Negativberichterstattung legen." Hadler zitiert einen Journalisten des Dänischen Rundfunks. Ulrik Haagerup bezeichnete das übliche Prinzip "Only bad news are good news" als antiquierte Meinung und fordert einen neuen, konstruktiven Journalismus: Storys über neutrale oder positive, zukunftsgerichtete Themen müssten stärker gewichtet werden. Neben berechtigter Kritik sollten die Artikel Expertenvorschläge für eine Verbesserung des Status quo enthalten. In seinem 52-seitigen einleitenden "Essay über die Wahrheit" stellt Simon Hadler nicht nur den Kampf gegen die "digitalen Windmühlen" dar, er erläutet auch die Zusammenhänge, die zu den unerfreulichen Effekten des Medienzeitalters führen.
Der zweite Teil, beginnend mit "Mind the gap" (Achten Sie auf die Lücke!) widmet sich zunächst der "Wikipedia-Utopie", das gesamte Wissen der Menschheit stehe jederzeit allen barriere- und kostenfrei zur Verfügung, jeder könne immer und überall dazu beitragen. Tatsächlich greifen aber hauptsächlich US-Amerikaner, Briten und gebildete westlich orientierte Menschen zu. Mehr als die Hälfte der Einträge mit Länderbezug betrifft eine Region, deren Landfläche weltweit nur 2,5 % ausmacht. Hier beginnen die Illustrationen von Stefan Rauter, der mit unverwechselbarer Handschrift die Texte durch Infografiken ergänzt und verdeutlicht. So stellt sich jedes Thema auf einer Doppelseite dar. Viel Stoff bietet Donald Trump, "ein begnadeter Alchemist, wenn es darum geht, aus Zahlen, Daten und Fakten Emotionen zu brauen - ganz egal ob seine 'Informationen' falsch kontextualisiert, schlicht erfunden oder schlampig recherchiert wurden. … Er ist der Meister aller Klassen im Verdrehen von Fakten - und damit Präsident der USA geworden."
"Von Relationen und Relativierungen" kennzeichnet den Roten Faden, der sich durch das ganze Buch zieht. Als studierter Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Migration bringt der Autor mehrere Beispiele aus seinem Fachbereich. So zitierte die Boulevardpresse eine Studie, nach der 27 % der jungen Muslime in Wien für islamistische Propaganda anfällig ("gefährdet") seien. Nicht erwähnt wurde, dass nur junge Männer mit geringer Bildung in entsprechenden städtischen Milieus befragt wurden. Diese spezielle Klientel, relativiert der Autor, neige in jeder Gesellschaft zur Radikalisierung. "Balken" und "Torten" sind beliebte grafische Hilfsmittel, um Statistiken zu veranschaulichen. Wenn man einen Balken abschneidet, der die anderen bei weitem überragt, oder Kurven in die andere Richtung zeichnet (Anstieg nach unten) lassen sich Ergebnisse einprägsam falsch darstellen. Unter das Kapitel "Alltäglichkeiten" fallen u. a. Smartphones, mit denen Deutsche täglich mehr als zwei Stunden verbringen, Fernsehen, Freizeit, Angst und Schreibabys.
"Gut gelaunter Skeptizismus" ist wohl, wie häufig, ironisch gemeint. Mehrfach berührt der Autor seine eigene Zunft, etwa, was das Image und die Zukunftschancen von Journalisten betrifft. In Österreich sind sie drittletzte in der Skala vertrauenswürdiger Berufsgruppen. Zudem stehen Zeitungsredakteure auf einer Liste der "gefährdeten Berufe" (ähnlich jener der "gefährdeten Arten" im Tierreich). Zwar spielt die Automatisierung noch eine geringe Rolle, doch gibt es bei der Los Angeles Times schon eine Website, für die eine Software vollautomatisch die Polizeidatenbank ausliest, daraus Sätze bildet und die stets aktualisierten Meldungen samt Opferfotos und Mordlandkarten ins Netz stellt.
"Schon Horkheimer und Adorno haben während des Zweiten Weltkriegs in ihrer 'Dialektik der Aufklärung' geschrieben, dass Aufklärung keinen Sinn hat, wenn sie schal und öde moralisierend daherkommt. … Wer die Aufklärung nicht gut verkauft, der ist ein schlechter Aufklärer, und wenn er noch so kluge Inhalte anzubieten hat. " Simon Hadler hat kluge Inhalte anzubieten und verpackt Fakt und Fake plakativ in Berichte, die man immer wieder lesen kann - und sollte.