Ulrike Kammerhofer-Aggermann (Hg.): Matthias tanzt#
Ulrike Kammerhofer-Aggermann (Hg.): Matthias tanzt. Salzburger Tresterer on stage. Kunst und Wissenschaft im Dialog. Begleitbuch zur Ausstellung. Salzburger Landesinstitut für Volkskunde. Salzburg/Wien 2017. 176 S., ill.
Der Tresterertanz galt als Identifikator vieler Menschen im Pinzgau, vor Kaiser und Touristen aufgeführte Attraktion, "uralter" Vegetationszauber - neuerdings als autoerotische Performance. Wissenschaftlich-nüchtern betrachtet, handelt es sich um einen Männertanz mit Stampf- und Sprungschritten. Die Ausführenden tragen prächtige Kostüme und Federkronen. Sie treten im Pinzgau und in der Stadt Salzburg rund um den Dreikönigstag auf, mit dem landläufig der Fasching beginnt.
Die Ausstellung "Matthias" - benannt nach dem "letzten" Tresterer-Tänzer in den 1930er Jahren, war 2014/15 im Salzburger Kunstverein zu sehen und kam 2016/17 adaptiert in das Österreichische Museum für Volkskunde in Wien. Unter dem Motto "Kunst und Wissenschaft im Dialog" bietet/bot sie nicht nur Raum für eine exzellente historische Aufarbeitung und die ältesten Originalkostüme, sondern auch für Installationen und Interventionen des international ausgebildeten und ausgezeichneten Halleiner Künstlers Thomas Hörl. "Ein respektloser Eingriff sagen die einen, kreative Aneignung der Tradition über ein Reenactment meinen andere, es ist die Absage an ein nationales Pathos, finden viele", schreibt Ulrike Kammerhofer-Aggermann, die Leiterin des Salzburger Instituts.
Sie hat die vielschichtige Schau kuratiert und den Hauptartikel der Begleitpublikation verfasst. Die Ethnologin vergleicht die Geschichte der Tresterer mit einem Puzzlespiel, in dem es weiße Flecken gibt, aber keine kontinuierliche Traditionslinie (wie frühere Forscher behaupteten). "Der Tresterertanz … ist eine städtische Aneignung der letzten rund 140 Jahre, der aufs Land zurückgeschlagen hat", beweist sie nach intensiver Quellenrecherche. Dabei fand sie zwei Formen: Einerseits den fröhlichen Maskenumzug mit verschiedeneren Figuren in einigen Pinzgauer Landgemeinden, andererseits den (isolierten) Reigentanz auf städtischen Bühnen, wie beim "Salzburger Adventsingen". Bei der ländlichen Form waren die Tresterer in ihren wertvollen Kostümen, die an die Kleidung barocker Adeliger erinnern, die "unnahbar Schönen", während die "schiachen" Gestalten die Zuschauer schreckten. Die Hausleute bedankten sich mit Geld und Gaben für den Besuch. In der Stadt "erstarrten" die Tänzer "zur Bühnenaufführung."
Die ersten Puzzlesteine entdeckte Ulrike Kammerhofer-Aggermann in offiziellen mittelalterlichen Faschingsumzügen. Damals sollten die Fasnachtfiguren - als Karikaturen des Ungewöhnlichen - teuflische Versuchungen darstellen. In Nürnberg und Venedig waren diese symbolischen Figuren Teil des städtisch-höfischen Faschings. In Salzburg - seine Kaufleute agierten als bedeutende Händler in Venedig - lässt sich Ähnliches Anfang des 17. Jahrhunderts nachweisen. Um 1680 mehren sich hier die, offenbar nicht befolgten, Maskenverbote. "Die Landbevölkerung passte den Fasching ihren Bedürfnissen an. Elemente verschiedener alpiner Bräuche scheinen darin Vorbilder gehabt zu haben", formuliert die Wissenschaftlerin vorsichtig.
Im 19. Jahrhundert fanden gebildete Städter Gefallen an der "exotischen Alpenwelt, die sie bald als Ideal überhöhten." Dazu kam ein nationales Interesse in der Vielvölkermonarchie. Buchillustrationen, Beschreibungen und (oft gestellte) Fotos aus dieser Zeit bestimmen bis heute die Vorstellungen von "Volkskultur". Kultur- und Geselligkeitsvereine wetteiferten in den Städten bei der Vorführung von Trachten, Volksliedern und -tänzen. So wurde 1891 der "Erste Salzburger Gebirgstrachten-Verein Alpinia" in der Landeshauptstadt gegründet, zum 20-Jahr-Jubiläum traten in diesem Rahmen erstmals Tresterer auf. In Wien konstituierte sich 1894 der Verein für Volkskunde. Im selben Jahr erwarb der Vereinsgründer Wilhelm Hein im Pinzgau Tresterer-Kostüme. Materialkundliche Analysen des Stoffes lassen wegen der Verwendung synthetischer Farben die Datierung nach 1869 zu. Diese ältesten Kostüme bildeten bis vor wenigen Jahren ein Highlight der Schausammlung des Österreichischen Volkskundemuseums, wie die Leiterin der Textilsammlung, Kathrin Pallestrang in ihrem Artikel feststellt.
"Die Intention der frühen Volkskunde war es, 'Relikte' vergangener Zeiten zu 'retten'. Bräuche und Objekte der Landbevölkerung wurden im Sinne der Quellstromtheorien als über Jahrhunderte unverändert gedeutet." Diese Deutungen, so Ulrike Kammerhofer-Aggermann, verstellen teilweise bis heute den Blick auf kulturelle Verflechtungen und wissenschaftliche Perspektiven. Als erster beschrieb Wilhelm Hein die Tänze der Tresterer, deren Kostüme er erworben hatte. Ein Jahrzehnt später stellte die Laienforscherin Marie Andrée-Eysn alle Salzburger Perchtenbräuche zusammen. 1939 knüpfte die NS-Forschung an die Aufzeichnungen der Jahrhundertwende an. Für das Phonogrammarchiv der Akademie der Wissenschaften führte Matthias Eder als letzter, der den Tanz beherrschte, in einem geliehenen Kostüm das Trestern vor. "Brauchkenner" sorgten für naturmythische und kultische Deutungen des Faschingsbrauchs. Die Filmdokumentation ist erhalten und steht nun - künstlerisch verfremdet - im Zentrum der Ausstellung.
"Seit 1945 wurden die Tresterer zum hoch bewerteten Faktor der Identitätsstiftung und Alleinstellungsmerkmal im Tourismus", bemerkt die Kuratorin und betont: "Internationale Kulturzusammenhänge und das Bedürfnis der Menschen nach persönlichkeitswirksamen Bräuchen stehen im Mittelpunkt der Forschung, aber nicht die Bewertung." 2013 wurden die "Alpinia"-Tresterer in das UNESCO-Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes Österreichs aufgenommen. Für die Einreichung hatten sie sich mit ihrer Geschichte auseinandergesetzt und sich von heute überholten Sichtweisen distanziert.
Neben weiteren Beiträgen von Lisi Breuss, Vitus Weh und Thomas Hörl enthält das Begleitbuch einen "bunten Strauß" an Bildern, die Einblick in die Ausstellungsarchitektur und Hörls "autochtone Exotismen" geben. Außer der wissenschaftlichen Dokumentation der beiden Ethnologinnen sind die letzten 25 Seiten von besonderem Interesse. Sie bilden die sieben "Tableaus" ab, deren umfangreiche Texte in der Ausstellung kaum konsumierbar sind. Denn die Geschichte der Tresterer ist im Wesentlichen durch Zeitungsartikel dokumentiert. Hier kann man sie, samt Quellen und Bildern in Ruhe nachlesen.