Agnes Meisinger: 150 Jahre Eiszeit#
Agnes Meisinger: 150 Jahre Eiszeit. Die große Geschichte des Wiener Eislauf-Vereins. Herausgegeben vom Wiener Eislauf-Verein. Böhlau Verlag Wien, Köln, Weimar 2017. 271 S., ill., € 29.99
Der Untertitel "große Geschichte" ist doppelsinnig gewählt. Der Wiener Eislauf-Verein (WEV), der heuer sein 150-Jahr-Jubiläum feiert, hat eine große Geschichte. Er ist einer der ältesten und größten Sportvereine der Welt. Die besten Eiskunstläufer und Eiskunstläuferinnen ihrer Zeit, wie Felix Kaspar, Ingrid Wendl, Emmerich Danzer oder Trixi Schuba, sind untrennbar mit der Institution verbunden. Seit seiner Gründung im Jahr 1867 hat sich der Wiener Eislauf-Verein als feste Einrichtung im Sport-, Freizeit- und Gesellschaftsleben der Stadt etabliert. Generationen von WienerInnen haben ihre Erinnerungen an den Eislaufplatz am Heumarkt. Im Zusammenhang mit dem umstrittenen Hochhausprojekt ist der Ort jetzt wieder in aller Munde.
Die Sporthistorikerin Agnes Meisinger vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien hat aber auch eine große Geschichte im Sinne einer umfassenden Chronik verfasst. Sie zeigt das wechselvolle Schicksal des Traditionsvereins von der Kaiserzeit bis heute. Damit schließt sie auch die Leerstelle in der Festschrift zum 100-Jahr-Jubiläum (1967). Deren Verfasser war im ersten Halbjahr 1945 interimistischer Leiter des Vereins gewesen. Er sprach nur von der "dunklen Zeit", ohne die Periode näher zu dokumentieren.
Die neue Chronik beginnt mit den historischen Wurzeln des Eislaufens. Sie reichen in nordischen Ländern 6000 Jahre zurück. Knochenkufen halfen den Bewohnern in der Steinzeit bei der Fortbewegung. Um 1300 erfanden die Niederländer den "holländischen Schlittschuh" als Sportgerät, das in den folgenden Jahrhunderten in ganz Europa zur Unterhaltung der vornehmen Gesellschaft diente. In Wien kam das "Schleifen" um 1800 in Mode. Wenn der Hafen des damals fertig gestellten Wiener Neustädter Kanals zugefroren war, bot er ideale Voraussetzungen dafür. Dort etablierte sich auch, zwei Generationen später, der Wiener Eislauf-Verein. Gründungsmitglieder waren 14 sportliche Aristokraten und Großbürger. Sie eröffneten ihren Natureislaufplatz im inzwischen stillgelegten Hafenbecken am Stephanitag des Jahres 1867 und sorgten gleich für Attraktionen. Der amerikanische Eistänzer Jackson Haines begeisterte mehr als 3000 Zuschauer, darunter Kaiser Franz Joseph. Den Hofpavillon und das Vereinsgebäude entwarf der Ringstraßenarchitekt Carl Hasenauer. Um 1900 beendete der Stadtbahnbau (heute Station Wien-Mitte) die erste, Periode des Platzes. Als Ersatz fand man ein Areal bei der Johannesgasse.
Der "Generalregulierungsplan Wien" hatte am Heumarkt ein Großprojekt des Architekten Ludwig Baumann, der auch das Konzerthaus plante, vorgesehen. Das "Olympion" sollte als multifunktionaler Veranstaltungsort für Konzerte, Radrennen und als Eislaufplatz dienen. Die elliptische Arena hätte 40.000 Personen Platz geboten. Zur Ausführung kam, in nur 18 Monaten, ein vereinfachtes Projekt des Architekten, nur für den WEV. 1912 erhielt der Platz eine Kunsteisanlage. Damit begann die Zeit der "Rekordjahre" und "Wunderkinder", die bis 1938 andauerte. Dann wurde von den mehr als 5500 Mitgliedern die Hälfte aus dem Verein ausgeschlossen, weil sie Juden waren.
Das nächste Kapitel nennt die Autorin "Der Neubeginn und seine Herausforderungen".Um den Wiederaufbau zu finanzieren, behalf man sich mit Operettenaufführungen und Sommersportveranstaltungen, wie Basketball. Im Eiskunstlauf wuchs eine neue Generation heran, wie "Europas Top Drei" Ingrid Wendl, Hannerl Walter, Hanna Eigl. Die Wiener Eisrevue faszinierte ab 1945 die Massen, bald nicht nur hier, sondern auch auf ihren Tourneen. 1970 wurde sie an "Holiday on Ice" verkauft.
Nach dem 100-Jahr-Jubiläum (1967) bis zur Jahrtausendwende erfolgte der "Aufbruch in eine neue Ära". Emmerich Danzer, Wolfgang Schwarz, Trixi Schuba und Claudia Kristofics-Binder sind einige klingende Namen aus dieser Zeit. Mit Gegenwart und Zukunft schließt das Buch der "großen Geschichte." Es ist eine umfassende Chronik, die das historische Umfeld einbezieht und sich nicht auf den Festschrift-Charakter beschränkt: solid geschrieben und auch für Nicht-Eingeweihte hochinteressant. Wertvolle Bilddokumente und Spezialthemen - wie über Eishockey, Schnellläufer, Eistänzer, Freistilringen am Heumarkt - ergänzen die Darstellung. Erinnerungen von Zeitzeugen, deren populärster wohl Otto Schenk ist, dürfen nicht fehlen. Der Schauspieler war seit seinem dritten Lebensjahr Vereinsmitglied und 1984 bis 1999 Präsident des WEV, sein Vater, der Notar Eugen Schenk, hatte dieses Amt 1948 bis 1957 inne. In einem Interview (2012) erzählte der Künstler humorvoll: "Ich wurde als Baby aufs Eis gestoßen und hatte das Glück, die ersten Schritte phänomenal zu bewältigen. Ich bin meiner Mutter gleich davongelaufen, wie ein Wunder."