Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle#
Carl E. Schorske: Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de Siècle. Mit einem Vorwort von Jaques le Rider. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Horst Günther. Molden Verlag Wien 2017. 384 S., ill., € 39.90
"Wien zählte Ende des 19. Jahrhunderts und während der Belle Èpoque neben Berlin, London und Paris zu den wichtigsten Zentren europäischer Kultur….," schreibt der Herausgeber Jaques le Rider im Vorwort, und: "Zwischen 1857 und 1910 wuchs die Bevölkerung in Wien aufgrund großer Migrationsströme aus dem Osten um das Vierfache (die jüdische Bevölkerung Wiens um das Achtundzwanzigfache!) und damit von weniger als 500.000 auf mehr als eine Million Einwohner. Um 1900 hatte sich Wien zu einem multikulturellen städtischen Umfeld entwickelt."
Der Herausgeber, Jaques le Rider, ist als Germanist und Kulturwissenschaftler Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und leitete das französische Kulturinstitut in Wien. Der Autor, Carl E. Schorske, wurde 1915 in New York geboren und starb 100-jährig in New Jersey. Er lehrte Europäische Geschichte mit dem Schwerpunkt Kultur- und Geistesgeschichte an der Wesleyan University, an der Universität Berkeley und im Institute for Advanced Study in Princeton. 2004 erhielt Carl E. Schorske den Wittgenstein-Preis der Österreichischen Forschungsgemeinschaft, 2012 wurde er Ehrenbürger von Wien. Für seine Analyse "Fin-de-Siècle Vienna" wurde er 1981 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.
Dieses Standardwerk ist eine Sammlung von sieben - zwischen 1960 und 1970 veröffentlichten - Studien, die eine Einheit bilden. Sie stellen exemplarisch Künstler, Wegbereiter und Visionäre der Moderne vor: "Die Seele und die Politik" - Arthur Schnitzler und• Hugo von Hofmannsthal, "Die Ringstraße, ihre Kritiker und die Idee der modernen Stadt" - Camillo Sitte und Otto Wagner, "Ein neuer Ton in der Politik: Ein österreichisches Trio" - Georg von Schönerer, Karl Lueger und Theodor Herzl, "Politik und Vatermord in Freuds 'Traumdeutung', "Gustav Klimt und die Krise des liberalen Ich", "Die Verwandlung des Gartens", "Die Explosion im Garten" - Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg. Der Kulturhistoriker zeigt Wien um 1900 als Experimentierraum des Geistes, Labor von Ideen, Visionen und Emotionen, politischen Leidenschaften und Gefühlen.
Carl E. Schorske beginnt seine Essays mit der - für Historiker existenzbedrohenden - Feststellung: "Das moderne Bewusstsein verhält sich der Geschichte gegenüber immer gleichgültiger, denn Geschichte, verstanden als Überlieferung, aus welcher es sich unablässig speisen könnte, ist ihm nutzlos geworden." Wien im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert sieht er als "eine der fruchtbarsten Brutstätten der ungeschichtlichen Kultur unseres Jahrhunderts". Um die Entwicklung verständlich zu machen, greift er Jahrzehnte zurück, zu Adalbert Stifters biedermeierlich anmutendem Bildungsroman "Nachsommer". Das Werk erschien 1857, dem Jahr, in dem Kaiser Franz Joseph die Schleifung der Basteien und die Anlage der Wiener Ringstraße entschied. Stifters utopisches Ideal des kultivierten Lebens, symbolisiert durch den gepflegten Garten und das private Museum, erwies sich nicht als brauchbar. Die Ringstraße mit ihren Prachtbauten und profitablen Wohn- und Geschäftshäusern markiert, steingeworden, das liberale Großbürgertum. Kritische Antworten auf die liberale Umgestaltung Wiens der prominenten Architekten Otto Wagner und Camillo Sitte zeigen widerstrebende Tendenzen.
Sigmund Freuds Werk "Die Traumdeutung" hat für Schorske politische Bedeutung. Der Begründer der Psychoanalyse hatte sich die intellektuelle Aufgabe gestellt, "die Politik zu neutralisieren, indem er sie auf psychologische Kriterien reduziert." In Wien, meint Schorske, definierten sich die Schöpfer der neuen Kultur in einer Art kollektiver Ödipusrevolte. Sie erhoben sich gegen die Autorität der väterlichen Kultur, die ihr Erbe war. "Der allgemeine und ziemlich plötzliche Wandel des Denkens und der Wertvorstellungen bei den kulturell Schöpferischen deutet eher auf eine gemeinsame gesellschaftliche Erfahrung, die ein Umdenken erzwang. Im Falle Wiens bot eine höchst kompakte, politische und gesellschaftliche Entwicklung diesen Zusammenhang." Der "neue Ton in der Politik" kam von Männern wie Georg von Schönerer, Karl Lueger und Theodor Herzl.
Nachdem sich der Autor eingehend der bildenden Kunst mit ihrem Exponenten Gustav Klimt gewidmet hat, wendet er sich der Literatur, exemplarisch dargestellt an Adalbert Stifter, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal mit ihren Gartenträumen zu. Doch das beschauliche Refugium sollte nicht von langer Dauer sein. Der expressionistische Maler und "Rebell der Kunst" Oskar Kokoschka hatte tatsächlich in jungen Jahren im Gallitzinbergpark eine "Explosion im Garten" verursacht - mit traumatischen Folgen. Sie fanden 1908 in seiner Erzählung mit eigenen Farblithographien "Die träumenden Knaben" Niederschlag. Das (für Kinder gedachte) Buch gilt als der Beginn des Expressionismus in Wien. Eine musikalische Parallele bilden die Kompositionen von Arnold Schönberg. In ihren vor dem Ersten Weltkrieg entstandenen Werken fanden beide Künstler die Mittel, ihre "Cris de coeur" in Formen zu gießen.
Jacques Le Rider schrieb als Herausgeber der limitierten, bibliophil gestalteten Neuausgabe: "Seit einem Vierteljahrhundert bestimmt das Werk von Carl E. Schorske die Diskussion über die Wiener Moderne der letzten 25 Jahre des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg … Einer jener unerschöpflichen Klassiker, von denen man glaubt, sie gelesen zu haben, und die bei jedem erneuten Durchblättern durch ihre unglaubliche Vielfalt überraschen“.