Markus Gneiß: Das Wiener Handwerksordnungsbuch (1364–1555)#
Markus Gneiß: Das Wiener Handwerksordnungsbuch (1364–1555). Edition und Kommentar. Band 16 der Quelleneditionen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, herausgegeben von Thomas Winkelbauer. Böhlau Verlag Wien. 670 S., ill., € 134,-
Anno 1430 legte der seit einem Jahr amtierende Stadtschreiber Ulrich Hirssauer das "Wiener Handwerksordnungsbuch" (HWOB) an und führte es drei Jahrzehnte hindurch (+ 1461). Seine Nachfolger setzten es noch lange fort und bis ins 17 Jahrhundert stand die Handschrift in Verwendung. Hirssauer versammelte zahlreiche, auch ältere, Handwerksordnungen, Ratsbeschlüsse, Urkunden und Eintragungen anderer Bücher in einem Band. Das Werk zählt zu den größten Kostbarkeiten des Wiener Stadt- und Landesarchivs. Es besteht aus 10 Pergament- und 225 Papierblättern mit einer Glocke als Wasserzeichen. Die Handschrift enthält 358 Eintragungen, davon rund ein Fünftel Eide.
Die älteste Ordnung bezieht sich anno 1364 auf die Zaumstricker, Erzeuger von Teilen des Zaumzeugs für Pferde. Darin geht es um Meisterrechte, Qualität und Konkurrenz. Die chronologisch letzte Eintragung ist 1555 ein Zusatz zur Leinweber-Ordnung. Sie betrifft den Höchstlohn für Gesellen und Strafen für den "Blauen Montag". Das Feiern war generationenlang ein Streitpunkt - verständlich bei einem Arbeitstag von 13 bis 15 Stunden.
1430, im Anlagejahr des HWOB, war der Stephansturm fast fertiggestellt. Vorsichtigen Schätzungen zufolge hatte Wien 20.000 Einwohner. Die wohlhabenden Handwerker spielten eine wichtige politische Rolle, zeitweise stellten sie die Mehrheit der Ratsmitglieder. Es gab 72 "organisierte Gewerbe". Ihre Meister hatten sich freiwillig aus wirtschaftlichen, religiösen, geselligen, sozialen oder sittlichen Gründen in Zechen (Zünften) zusammengeschlossen. Dazu kamen 54 weitere Handwerksarten.
Obwohl sich Historiker seit der Mitte des 19. Jahrhunderts für das HWOB interessierten, fehlte bis jetzt eine Gesamtedition, die alle Verordnungen in einem Band vereint. Mag. Markus Gneiß hat diese Forschungslücke nun geschlossen. Er ist Mitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Der Autor zeigt die Entwicklung des Wiener Handwerks vom 13. bis ins 16. Jahrhundert und analysiert die großen Funktionsgruppen Lehrlinge, Gesellen und Meister. Durch die Berücksichtiung der ebenfalls enthaltenen Bürger- und Treueeide, Bestimmungen zum Maut- und Marktwesen, Weinbau und Ausschank, Sicherheits- und Verteidigungswesen zeichnet die Monographie ein vielfältiges Bild vom spätmittelalterlichen Arbeits- und Alltagsleben. Überblickstabellen, Glossar sowie ein umfassendes Namen- und Sachregister erweisen sich als hilfreiche Wegweiser durch eine fremd gewordene Welt.
Ein Lehrling, im 14. Jahrhundert als "Lerknecht", später als "Junger" oder "Lerjunger" bezeichnet, trat meist mit 12 bis 14 Jahren ein, arbeitete und wohnte drei Jahre bei seinem Meister. Eher musste er für Ausbildung, Kost und Quartier bezahlen, als einen Lohn zu bekommen. Das "Entlaufen" war nicht selten und zog strenge Strafen nach sich. Voraussetzungen für die Aufdingung - die nach einer Probezeit erfolgte - waren eheliche Geburt und ein Bürge. Am Ende der Lehrzeit sollte der Junge vor dem versammelten Handwerk freigesprochen werden und einen Lehrbrief erhalten. Nach Spende von Wachs, Geld oder einem Mahl konnte er sich in die "Gesellenschaft" aufnehmen lassen.
Gesellen wurden anfangs als "Knecht" oder "Knappe" bezeichnet, was die Abhängigkeit vom Meister zum Ausdruck bringt. Sie hatten zwar schon mehr Rechte, doch war die Jugendbewegung der Gesellenschaft bei den Meistern nicht gerne gesehen, ebenso wenig der Blaue Montag, Nebenverdienst ("Schoßwerk") und anderes. Gesellen konnten bei ihrem Meister bleiben oder auf Wanderschaft gehen. Die ansässigen begrüßten (und befragten) zugewanderte Gesellen bei einem Mahl und halfen bei der Arbeitssuche. Die "Mitgenossen" wohnten in einer Herberge und mussten meist ledig bleiben. Die Aufdingung geschah mit einem Vertrag, in dem u.a. der zu zahlende Höchstlohn und untadeliges Verhalten des Gesellen festgeschrieben waren. In den meisten Gewerben war die Zahl der Gesellen auf zwei bis drei (und die Zahl der Lehrlinge auf einen) beschränkt. Gearbeitet wurde ab 6 Uhr früh bis zum Sonnenuntergang. Für Arbeit bei Kerzenlicht gab es Zulagen. Man unterschied zwischen Sommer- und Winterlöhnen und -kost. Von Ostern bis 29. September (Michaeli) sollten die Sporergesellen zu Frühstück und Jause zwei Eier bekommen. Im Winter zum Frühstück Eier, Fleisch oder Fleischsuppe, zur Jause Brot und Käse. Manche Meister motivierten ihre Mitarbeiter, indem sie ihnen Darlehen gaben, die abgearbeitet wurden. Sie durften einander keine Gesellen abwerben. Die Aufnahme in die Interessensvertretung der Gesellen war mit einer Geldzahlung verbunden, auch sonst wurden Gebühren eingehoben. Diese Beträge dienten der Krankenversorgung, für Messfeiern und Begräbnisse. Die Gesellen sollten Glücksspiele meiden, sich Frauen gegenüber anständig benehmen sowie Wach- und Sicherheitsdienste für die Stadt versehen. Auch die Teilnahme an der Fronleichnamsprozession wurde erwartet.
Nach dem Ende der Gesellenzeit konnte man seinen eigenen Betrieb gründen. Um selbstständiger Meister zu werden, musste man einige Bedingungen erfüllen: Leumundszeugnis und Bürgerrecht, Steuerzahlungen, Engagement für die Stadt und Eheschließung. Dabei waren Meistersöhne und Gesellen, die eine Meisterswitwe heirateten, deutlich im Vorteil. Ihnen wurde manchmal sogar die Meisterprüfung erlassen. Der Zusammenschluss der Meister eines Handwerks war die Zeche. Ihre Leiter, die Zechmeister, hatte in der Organisation umfangreiche Aufgaben. Gemeinsam mit den Beschaumeistern übten sie die Qualitätskontrolle aus. Weitere wichtige Aufgaben der Zeche waren die Regelung der gemeinsamen Einkäufe und der Verkaufsplätze. Die wichtigsten gruppierten sich im 15. Jahrhundert um den Hohen Markt. Auch religiös-bruderschaftliche Aspekte spielten in den Meisterzechen eine große Rolle.
"Der Handwerksmeister war bei der Führung seines Betriebes auf die Hilfe seiner Mitarbeiter - also Lehrlinge, Gesellen und Mägde - und auch seiner Ehefrau und Kinder angewiesen. … Das Ehepaar teilte sich in der Regel als Arbeitspaar die Rollen und Aufgaben im Meisterhaushalt. Der Wegfall des Ehe- und Arbeitspartners brachte Probleme." Witwen durften den Betrieb weiter führen, blieben aber wohl nicht lang in diesem Status. Denn sie galten als gute Partie. Außerhalb der Zunftordnung standen die Störer, die ein Handwerk trieben. Sie kamen aus umliegenden Landgemeinden und boten ihre Dienste in Wien an. Die Arbeit in der Stadt war ihnen verboten, ihre Gesellen hatten keine Chance, einmal von einem Wiener Meister aufgenommen zu werden.
Die Edition enthält zahlreiche Details, etwa über das Zusammenleben, die Arbeitsorganisation, Feiertage und Rituale, die eine Fülle unschätzbarer Quellen ergeben. Der Kommentar kann so manches Vorurteil über das "finstere Mittelalter" zurechtrücken. Nicht nur Fachleute, sondern alle Interessierten sollten Markus Gneiß dankbar sein, dass er sich der Mühe unterzogen hat, diese verschütteten Quellen wieder zum Sprudeln zu bringen.