Wir freuen uns über jede Rückmeldung. Ihre Botschaft geht vollkommen anonym nur an das Administrator Team. Danke fürs Mitmachen, das zur Verbesserung des Systems oder der Inhalte beitragen kann. ACHTUNG: Wir können an Sie nur eine Antwort senden, wenn Sie ihre Mail Adresse mitschicken, die wir sonst nicht kennen!
unbekannter Gast

Martin Haidinger: Jedermanns Land#

Bild 'Haidinger'

Martin Haidinger: Jedermanns Land. Österreichs Reise in die Gegenwart. Amalthea Verlag Wien. 272 S., ill., € 23,-

Zeitgeschichte ist präsent, erschreckend, verwirrend - sicher nicht unterhaltsam. Martin Haidinger schafft es trotzdem, die Geschichte Österreichs seit 1918 wissenschaftlich redlich, doch mit einem Schuss Humor zu referieren. Der Historiker und Wissenschaftsjournalist kommt ohne erhobenen Zeigefinger und ohne Gehässigkeit aus, wenn er das vergangene Jahrhundert aus der Sicht des "kleinen Mannes" und der hohen Politik Revue passieren lässt. Intelligent und eloquent begleitet er die LeserInnen auf dem Weg durch die Zeit. Der Leitfaden klingt schon im Titel an: Der 1920 uraufgeführte Salzburger Festspielklassiker "Jedermann". Der Autor sieht die Alpenrepublik als Land der Jedermänner und -frauen und beginnt jedes Kapitel mit einem entsprechenden Zitat und einem passenden Foto.

Vor dem Festspiel-Besuch heißt es noch "Willkommen im Karl-Theater!". Das Leopoldstädter Theater wurde von Carl Karl betrieben, dem es seinen Namen verdankte. Johann Nestroys Revolutionsposse "Freiheit in Krähwinkel" hatte hier ebenso Premiere wie die Suppé-Operetten "Freigeister" und "Banditenstreiche". Martin Haidinger holt in seinem "Karl-Theater" eine Reihe einflussreicher Namensträger auf die Bühne: den Wiener Bürgermeister Karl Lueger, den Philosophen Karl Marx, die österreichischen Politiker Karl Renner und Karl Seitz, den Literaten Karl May, den Kritiker Karl Kraus und den letzten Kaiser, Karl I.

Nach dem Ende der Donaumonarchie und dem verlorenen Ersten Weltkrieg blieb Österreich vorerst nur eine "Bilanz des Schreckens". 1,200.000 Soldaten waren gefallen und 2,860.000 verwundet. Die Pandemie der Spanischen Grippe forderte 21.000 Todesopfer. Die Jahre 1920 - 1927 charakterisiert der Autor als "Tagesverfassung(en)". Er stellt die Kontrahenten Ignaz Seipel und Otto Bauer und die drei "Lager" - Deutschnationale, Christlichsoziale, Sozialdemokraten - vor, die jeweils ihre eigenen Interessen verfolgten. 1927 kam es zum "Lager-Feuer", wie Haidinger den Abschnitt über die Jahre bis 1933 betitelt, in dem es um Vorgeschichte und Folgen des Justizpalastbrandes geht. Auch vor 80 Jahren gab es "Fake news und Lügenpresse". 1918 erschienen in Wien 30 Zeitungen, bis zum Ende der Ersten Republik waren es 40. Von 1895 bis 1923 verdreifachte sich die Gesamtauflage, bis zu 1,5 Millionen Exemplare. Der Autor analysiert die damalige Medienlandschaft und ihren Einfluss auf die politische Öffentlichkeit.

Ein neues Kapitel wurde 1934 bis 1938 aufgeschlagen. Zum "Jedermann"-Zitat "Sie sitzen ja alle im Totenhemd!" wählte Haidinger das Foto "Dollfuß und Starhemberg - zwei Figuren einer undichten Diktatur". Er schreibt: "Am 15. März legt ganz Wien um 10 Uhr die Arbeit nieder, um Hitler zu hören. Vor rund einer halben Million jubelnder und schaulustiger Menschen am Heldenplatz der Wiener Hofburg hält er von einem wuchtigen Balkon aus eine Ansprache: … Sieg Heil!"

Im Dezennium bis 1948 geschah viel Schreckliches: "Anschluss", grausame Diktatur, der Zweite Weltkrieg, mit hunderttausenden gefallenen und vermissten Soldaten, zehntausenden Toten, ausgebombten, verletzten Zivilisten, Morde an Juden, Roma und politischen Gegnern … Sachlich rollt der Autor auch diese düstere Epoche der Zeitgeschichte auf. Seine Stichworte dazu sind "Höhenflug", "Entäußerung", "Erniedrigung", "Kunst und Kirche", "Täter, Opfer und der Rest", "Der letzte Akt", "Kaltstart".

Nach Kriegsende "sind die Österreicher von deutschen Österreichern zu österreichischen Österreichern geworden", stellt der Verfasser fest. Der Staatsvertrag - "eine Projektionsfläche moderner Mythen und Legenden" - steht im Zentrum des Kapitels "Ost-West-Passage 1948-1966". Daran schließt sich die "K. u. k. Moderne: Klaus und Kreisky 1966-1983". Der Handschlag der Politiker auf dem Foto vom Wahlabend 1970 weist sie als "Repräsentanten einer Wendezeit" aus. Als passendes Zitat wählte der Autor : "Bin jung im Herzen und wohl gesund / Und will mich freuen meine Stund, / Es wird die andere Zeit schon kommen, / wo Buß und Einkehr mir wird frommen." Nach "Klaus-Effekt", Glück und Ende der Ära Kreisky, folgte das Land dem "Ruf Europas". 1989 zerschnitt Außenminister Alois Mock symbolisch den Eisernen Vorhang. 1995 trat Österreich der Europäischen Union bei, genau zwei Drittel der Bewohner befürworten dies bei einer Volksabstimmung. 1984 bis 1999 war die Zeit der ökologischen Bewegung (1984 Aubesetzung in Hainburg) der "Waldheim-Affäre", der Gastarbeiter und des Aufstiegs von Jörg Haider. Die in den abschließenden Kapiteln beschriebenen Ereignisse sind noch in Erinnerung. "Das hässliche Entlein und die Reaktion 2000-2015" behandelt die reformfreudige schwarz-blaue Regierung von Wolfgang Schüssel, der 2006 eine rot-schwarze unter Alfred Gusenbauer folgte. Sie wurde nach Neuwahlen 2008 durch die Regierung "Faymann I" sowie 2013 "Faymann II" bzw. Kern ersetzt. Im "Epilog Nord-Süd-Route 2015-2018" thematisiert der Autor die "Flüchtlingskrise" als beherrschendes Thema des seit 2015 tobenden Dauerwahlkampfes. 2017 gewann die ÖVP die Nationalratswahl. Wenn sie Glück haben, "werden der junge Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) und sein Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) an dem gemessen, was sie leisten und nicht entlang ideologischer Polemik."

Martin Haidingers Buch ist ein besonders wichtiger Beitrag zum Gedenk- und Jubiläumsjahr 2018. Er schafft es, ein heikles Kapitel der Vergangenheit lehrreich, aber nie belehrend, mit großem Durchblick und doch detailreich zu vermitteln. Man kann das Buch nur jedermann und jederfrau wärmstens empfehlen. Es könnte ein ideales Unterrichtsmittel sein und sogar Ausstellungen ersetzen.