Alexander Pschera: Vergessene Gesten#
Alexander Pschera: Vergessene Gesten. 125 Volten gegen den Zeitgeist. dvb-Verlag Wien. 186 S., ill. € 22,-
Der Titel ist perfekt gewählt. "Vergessene Gesten" klingt gut und weckt Erinnerungen an Gebärden der Höflichkeit, die aus der Mode gekommen sind, wie Handkuss, den Hut ziehen oder jemandem die Tür aufhalten. Beim Untertitel mag man an Don Quijote denken. Wenn der Germanist und Journalist Alexander Pschera seine "125 Volten gegen den Zeitgeist" reitet. Doch gelingt es ihm, humorvoll bis sarkastisch Brücken zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu schlagen.
Eigentlich weckt der Titel andere Erwartungen, denn um Gesten - begleitende Gebärden, nonverbale Kommunikation - geht es hier in den wenigsten Fällen, eher um Gewohnheiten. Das zeigen Titel wie "Einen Stammtisch besuchen", "Uhren aufziehen" oder "Den Spazierstock schwingen." Einen der Essays nennt der Autor "Sich trauen, das Wort 'Eigentlich' zu verwenden ". Denn dieses "vergleichsweise überflüssige Adverb" könne "durchaus nuancenreich eingesetzt werden."
Eigentlich könnte man sich fragen, ob es so schlecht ist, dass manches dem Zeitgeist nicht mehr entspricht. Dazu zählen Bräuche wie "Eulen ans Hoftor nageln" als magische Beschwörung, "Sich duellieren" oder "Ohrfeigen verteilen". Andererseits möchte man mit dem Autor manchem nachtrauern, das selten geworden ist: "Niveau haben", "Pünktlich sein" oder "Leise leben". Er hat schon recht, manches hat sich durch die technische Entwicklung aufgehört: Lichtschalter zum Umlegen, brüllende WC-Spülungen oder gewöhnliche Wasserhähne. Aber ist das wirklich so furchtbar?
Eigentlich müsste man froh sein, dass man noch immer selbst entscheiden kann, welche Usancen man nicht der Vergessenheit anheimfallen lässt. Glücklicherweise ist es ein Großteil der in dem Buch aufgelisteten, beispielsweise "Einen Waldlauf machen", "Urlaubsfotos einkleben", "Einem Hobby frönen", "Briefmarken ablösen", "Gedichte auswendig lernen", "Zeitungsartikel ausschneiden", "Mit dem Bleistift in der Hand lesen", "Etwas im Lexikon nachschlagen", "Pralinen verschenken", "Ins Caféhaus gehen", "Ein Fest ausrichten", "Seine Schuhe putzen", "Einem Beamten Respekt erweisen", "Einen Schaufensterbummel machen", "Zum Abschied mit dem Taschentuch winken", "Ansichtskarten schreiben", "Tagebuch führen" oder "Seinen Lebensabend im Ruhestand ausklingen lassen."
Eigentlich vermutet man angesichts der Nostalgie und Gegenwartskritik einen alten Herrn als Verfasser. Aber Alexander Pschera ist Jahrgang 1964. Er studierte in Heidelberg Germanistik, Musikwissenschaft und Philosophie und promovierte über den Dichter Eduard Mörike und das „Zeitalter der Idylle“. Neben literaturwissenschaftlichen Arbeiten trat er als Autor, Herausgeber und Publizist zu Themen der Medientheorie und Medienphilosophie sowie zur Phänomenologie und Kulturgeschichte des Internets hervor, schreibt regelmäßig für das politische Monatsmagazin Cicero und für Deutschlandradio Kultur.