Judith Brandner: Japan #
Judith Brandner: Japan. Inselreich in Bewegung. Residenz Verlag Salzburg - Wien 2019. 224 S., ill., € 22,-
2019 feiert man das 150-Jahr-Jubiläum der österreichisch-japanischen Beziehungen. 1869 wurde der Freundschafts- Handels- und Schifffahrtsvertrag unterzeichnet. Anlässlich einer Kunstausstellung zum Jubiläumsjahr fragte ein junges Paar die Autorin, auf welchen Kulturschock es sich bei der ersten Japanreise einstellen müsste. " 'Dass Japan so hässlich sein kann', rutschte es mir heraus … Unsere Klischee- und Bilderbuchvorstellungen von Japan spiegeln nur einen kleinen Teil der Realität wider. Natürlich gibt es das schöne Japan mit alten Tempeln und Schreinen, wunderbaren Gärten, traditionellen Holzhäusern und Geschäften, grandiose und spektakulär schöne Landschaften, atemberaubender Architektur - modern wie traditionell, und vor allem ist da diese feine, vornehme und unglaublich achtsame Art der Menschen, miteinander umzugehen und die eigene Kultur wertzuschätzen. … Japan ist ein Land voller Widersprüche.' " Judith Brandner kennt und benennt diese Ambivalenz. Sie studierte Japanologie und befasst sich seit fast vier Jahrzehnten mit dem Inselreich, wo sie als Lehrbeauftragte und Publizistin tätig war. Ihre Zustandsbeschreibungen und Hintergrundreportagen entstanden in bester ORF-Korrespondentenmanier, gut recherchiert, informativ, interessant.
Die Geschichte des modernen Japan begann vor 160 Jahren. 1859 erzwangen die "schwarzen Schiffe" des amerikanischen Marineoffiziers Commodore Matthew C. Perry die Öffnung Japans nach fast 250-jähriger Abschottung vom Rest der Welt. Zwölf Jahre später brach eine hochrangige Delegation auf, um mehrere Monate lang die Zivilisation Europas und Amerikas kennen zu lernen und die Modernisierung ihres Landes einzuleiten. Die 40 Minister, Beamten und Gelehrten der Iwakura-Gesandtschaft besuchten auch Österreich, wo sie sich von der Semmeringbahn und dem Heeresgeschichtlichen Museum beeindruckt zeigten. Die Gäste nützten die Gelegenheit zum Besuch der Wiener Weltausstellung, auf der sich Japan mit mehr als 6600 Exponaten präsentierte. Die Pavillons in einem nachgebauten Park samt Wasserfall, Brücke und Tempel begeisterten das Wiener Publikum. Eine Malerin schrieb: "Japan ist zur Parole und Losung bei der großen und allgemeinem Weltausstellungs-Revue geworden." Der "Zauber" setzte sich wenig später bei der Pariser Weltausstellung fort. Die Faszination erfasste bildende Künstler ebenso wie Operettenkomponisten und einfache Konsumenten. Die damals begründeten Vorstellungen und Vorurteile wirken bis heute weiter.
Judith Brandner lenkt den Blick auf das andere Japan und nennt aktuelle Probleme beim Namen. Sie beleuchtet Politik und Geschichte, besuchte Protestbewegungen und interviewte Akteure. Vorwiegend Frauen, junge und alte Menschen engagieren sich gegen Pläne einer Verfassungsänderung, den Neoliberalismus, Atomkraftwerke und die Olympischen Spiele, die 2020 in Tokyo stattfinden. Gesellschaftspolitisch sind Frauenrechte und Arbeitswelt drängende Themen. Zwei Drittel der Beschäftigten haben keine fixe Anstellung, viele machen mehrere Jobs und sind doch 'Working poor'. Die Dunkelziffer der Obdachlosen ist hoch, Betroffene schämen sich, die ihnen zustehende Sozialhilfe zu beantragen. Viele junge Menschen können sich eine Familiengründung nicht leisten. Die Gesellschaft altert, Pensionisten müssen sich von Robotern pflegen lassen. Die Bevölkerungspyramide steht Kopf. Die Autorin spricht von einer "fatalen Demografie" und fragt: "Verschwindet Japan?" Derzeit hat der Staat 127 Millionen Einwohner. Schätzungen zufolge werden es 2065 nur 82 bis 88 Millionen sein.
Breiten Raum nimmt im Buch die Atomproblematik ein. Judith Brandner hat die Katastrophe von Fukushima miterlebt. Sie berichtet darüber gleichermaßen sachlich wie persönlich. Am 11. März 2011 erschütterte das bisher stärkste Beben der Geschichte den Nordosten Japans. Dem Seebeben folgte ein 20 Meter hoher Tsunami, der zum Super-GAU im Kraftwerk Fukushima führte. Die Auswirkungen sollten in dreißig bis vierzig Jahren beseitigt sein. Nach fast zwanzig Jahren lagern Fässer mit einer Million Tonnen kontaminiertem Wasser auf dem Kraftwerksareal, jährlich kommen bis zu 80.000 Tonnen dazu. 14 Millionen Kubikmeter verseuchte Erde sind in Säcken zwischengelagert, die Endlagerung ist ungewiss. "J-Village", einst Vorzeigedorf des japanischen Sports, lag in der Sperrzone und diente als Hauptquartier der Krisenmanager. Nun wurde eine Halle für Olympioniken gebaut, der Fackellauf des olympischen Feuers soll dort starten. Atomkraftwerke und Atombomben, die Assoziation drängt sich auf. Wieso setzt gerade das Bombenopfer Japan auf Atomenergie? Dafür gibt es mehrere Erklärungen, weiß die Autorin. Einmal greift die Propaganda zur "friedlichen Nutzung der Kernenergie". Andererseits ist für die Japaner Unabhängigkeit ein hoher Wert, sie müssen aber 93 % der Energie importieren. AKWs sollen Abhilfe schaffen. 2014 wählte Judith Brandner für einen Lehrauftrag an der Universität Nagoya die Thematik Hiroshima, Fukushima und das Werk "Der Atomstaat" des österreichischen Schriftstellers Robert Jungk.
Ein anderes Kapitel mit Österreichbezug handelt von der deutsch-österreichischen Einwanderer-Familie Schreck. Bald nach dem Ersten Weltkrieg wurde der U-Boot-Ingenieur Hermann Schreck von der Maschinenfabrik MAN nach Japan beordert. Mit seiner jungen Familie machte er Kobe zum Lebensmittelpunkt. Er arbeitete für das Unternehmen, das die Eisenbrücke vor dem Kaiserpalast errichtet hatte, erlebte 1923 den Großbrand von Tokyo und war u. a. Direktor für Ostasien der österreichschen Schoeller-Bleckmann Stahlwerke. Sein Sohn Gerhard besuchte im Zweiten Weltkrieg die Kaiser-Wilhelm-Schule in Shanghai, wie auch Uta Bormann, die Tochter eines Arztes und einer bekannten Wiener Grafikerin. Gerhard Schreck arbeitete mit seinem Vater zusammen in der Stahlbranche. Auf sie gehen Pionierleistungen wie "das neue österreichische Tunnelvortriebsverfahren", Zuckerrübenanbau und -verarbeitung in Hokkaido und neuartige Motorenteile für Honda-Automobile zurück. 1951 heirateten er und Uta Bormann. Sie wurde ein wichtiges Mitglied der japanischen High Society und organisierte internationale Ausstellungen für ihre Mutter Emma Bormann. Von den vier Kindern des Ehepaares Gerhard und Uta Schreck leben drei in Europa, eine Tochter machte Karriere bei einem japanischen Fernsehsender.
Zuletzt zieht die Autorin die Bilanz einer Ära: "Heisei", die Regierungsperiode von Kaiser Akihito (1989 - 2019). In diese Zeit fallen Ereignisse wie die Fukushima-Katastrophe, das Erdbeben von Kobe, Wirtschafts- und Bankenkrisen. Völlig ungewöhnlich war die Abdankung des 85-jährigen Tenno ("himmlischer Herrscher) Akihito. Seit Mai 2019 hat Japan einen neuen Kaiser, Naruhito. Mit seiner zeremoniellen Inthronisierung im Oktober - an der auch der österreichische Bundespräsident teilnahm - begann eine neue Ära, „Reiwa“ genannt. " Bleibt zu hoffen, dass die Reiwa-Epoche tatsächlich eine Phase der 'schönen und friedlichen Harmonie' werden wird, wie es die Schriftzeichen offiziell suggerieren sollen. Und nicht eine Ära, in der Nationalismus und 'Befehle an die Untertanen' dominieren , wie es andere aus der Bezeichnung 'Reiwa' herauslesen." , beendet Judith Brandner ihr überaus aufschlussreiches Buch.