Christian Brandstätter, Christian J. Hirsch, Hans-Michael Koetzle: Wien #
Christian Brandstätter, Christian J. Hirsch, Hans-Michael Koetzle: Wien. Porträt einer Stadt. Taschen-Verlag Köln 2019. 532 S., ill., € 50,-
Wäre es nicht kitschig, dann müsste man bei diesem Prachtband an ein Lied von Hans Moser denken: "Mein Herz, das ist ein Bilderbuch vom alten Wien". Vieles, was der Volksschauspieler besungen hat, findet sich da abgebildet: die "oiden Weana" und "feschen Maderln", Walzerklang und Donaustrand, Pferdebahn und Fiaker, nicht zu vergessen, der "Kaiser Franzl".
Aber der Gedanke an Kitsch ist in dem repräsentativen, dreisprachigen (deutsch, englisch, französisch) Werk nicht angebracht. Fast 100 namentlich bekannte und zahlreiche anonyme FotografInnen haben hunderte Bilder gestaltet, um die schönen (und weniger schönen) Facetten der Stadt darstellen. Bei der Auswahl konnten die Autoren aus dem Vollen schöpfen. Christian Brandstätter, der Gründer des gleichnamigen Verlags und Herausgeber zahlreicher Bildbände, verfügt mit IMAGNO über das größte Foto-Privatarchiv Österreichs. Mit dem Wiener Fotografen Christian J. Hirsch und dem Münchener Journalisten Hans-Michael Koetzle hat er aus seinem Fundus ein weiteres opulentes Werk geschaffen. Es enthält "Ikonen" der Fotografie ebenso wie unbekannte Schätze. Literarische Zitate ergänzen die ausführlichen Bildtexte. Am Ende informieren Kommentare über die KünstlerInnen, dazu kommen Film-, Musik- und Literaturempfehlungen. Die einführenden Texte zu den fünf Kapiteln, die genau 180 Jahre umfassen, lassen das Porträt der Stadt aus Mosaiksteinen entstehen. Kompakt und kompetent werden Daten und Fakten aus Politik, Kultur und Kunst vereint, wobei ein Schwerpunkt auf der Geschichte der Fotografie liegt. Die Reihung erfolgt klassisch chronologisch.
1839-1918 war Wien zugleich Hauptstadt eines Vielvölkerreiches und "Labor der Moderne". Schon 1839, im Jahr seiner Erfindung, sandte der Pariser Fotopionier Louis Daguerre Bilder an Clemens Wenzel Metternich, der sie an der Akademie ausstellen ließ. Der Staatskanzler sandte den Physiker Andreas von Ettingshausen nach Frankreich, um bei Daguerre die neue Kunst zu lernen und eine Kamera mitzubringen. Ettingshausens erste in Wien entstandene Daguerreotypie aus dem Jahr 1840 zeigt die Hofreitschule in der Burg und das alte Burgtheater. Nur ein Jahr jünger ist ein von Joseph und Johann Natterer angefertigtes Bild des Josefsplatzes. Es gelang den Brüdern Natterer, die Belichtungszeit entscheidend zu verringern, ihre "Sekundenbilder" waren die ersten Momentaufnahmen. Diese Inkunabeln der Fotografenkunst sind im Buch reproduziert, wie auch dokumentarische Aufnahmen der im Wandel begriffenen Stadt. Dazu zählt u. a. eine von der k. k. Hof- und Staatsdruckerei herausgegebene Serie vom Abbruch der Basteien zum Bau der Ringstraße. Die Gebäude und Passanten des Boulevards sind ebenso Motive wie der Prater, Schauplatz der Weltausstellung 1873, oder Alltagsszenen. Breiten Raum nimmt die Kunst des Jugendstils ein. Andererseits verstanden es Lichtbildner wie Otto Schmidt, so genannte Volkstypen in Szene zu setzen. Manche dieser Fotos wurden handkoloriert und fanden als Glasdiapositive Verwendung.
1918 - 1938, die Zeit zwischen den Kriegen, war durch "Rotes Wien und Austrofaschismus" geprägt. Berühmt gewordene Fotos, wie die Eröffnung des Karl-Marx-Hofes, vom Justizpalastbrand oder vom Putschisten-Überfall auf das RAVAG-Studio fallen in dieses Kapitel. Rudolf Koppitz oder Madame d'Ora schufen künstlerische (Akt-) Bilder. Hingegen zeigen Reportagen von Lothar Rübelt und Otto Skall arbeits- und obdachlose Menschen.
1938 - 1955: Das Kapitel Nationalsozialismus, Zweiter Weltkrieg und Besatzungszeit enthält erschütternde Bilddokumente: Begeisterte Massen am Wiener Heldenplatz, antisemitische Ausschreitungen, der ausgebrannte Stephansdom, in Bombenruinen spielende Kinder, Heimkehrertransporte, aber auch Wiederaufbau der Staatsoper, Firmlinge im Fiaker beim rekonstruierten Riesenrad, Handwerker, Künstler, Kaffeehausgäste und als krönender Abschluss die Unterzeichnung des Staatsvertrages.
1955 - 1989: Aufbau und Modernisierung ließen die Stadt zu neuer Vielfalt erwachen. Barbara Pflaum und Franz Hubmann zeigten den Alltag in raffinierter Weise. Pflaum gilt als Bildchronistin der Zweiten Republik, Hubmann als Doyen der österreichischen Fotografie. Legendär sind seine Künstlerportraits und Schwarz-Weiß-Aufnahmen für die von ihm mitbegründete Kulturzeitschrift "magnum". Barbara Pflaum hielt mit ihrer Rollei-Kamera so unterschiedliche Motive wie Modeschauen, ein Kabarett-Ensemble oder John und Jacqueline Kennedy auf dem Stephansplatz fest. Ihr Nachlass umfasst rund 150.000 Negative.
1989 bis heute ist "Öffnung und Wandel" übertitelt. EU-Beitritt, Fall des Eisernen Vorhangs, Flüchtlingskrise, Lichtermeer und Hofburgbrand sind einige Stichworte zum jüngsten Kapitel. Innovative Neubauten entstanden, beispielweise das von Hans Hollein geplante Haas-Haus auf dem Stephansplatz, der Hauptbahnhof in Favoriten, das Fernwärmewerk Spittelau, das Hundertwasserhaus im 3. Bezirk. Daneben erstrahlen die Gebäude an der Ringstraße, Hofburg und Postsparkasse in ihrem alten Glanz.
Im Refrain von Hans Mosers "Bilderbuch vom alten Wien" sang er: "Da blätter ich ganz heimlich manches Mal darin". Ganz im Gegensatz zum vorliegenden, großartigen Coffee Table Book. Das mehr als 500-seitige Werk über das alte und neue Wien sollte weder heimlich, noch nur manches Mal betrachtet werden. Auch wer die Stadt kennt, wird darin immer wieder Neues entdecken.