Richard Edl (Hg.): Hintaus bei den Stadeln#
Richard Edl (Hg.): Hintaus bei den Stadeln. Die unbekannte Seite des Weinviertels. Mit Beiträgen von Richard Edl, Wolfgang Galler, Thomas Hofmann, Wolfgang Krammer, Martin Neid, Petra Regner-Haindl, Johannes Rieder, Michael Staribacher, Bettina Withalm. Edition Winkler-Hermaden Schleinbach 2019. 120 S., ill., € 21,90
"Hintaus ist eine Richtungsangabe für die hintere Seite des Bauernhofs. Ihr Gegensatz ist die Richtung 'voraus', die - unschwer zu erraten, die vordere Seite des Hofes meint. Auf der Rückseite also sind die Scheunen zu finden, aufgereiht entlang der Hintausgasse. " , so beginnt der Herausgeber Richard Edl den Bild-Textband über "die unbekannte Seite des Weinviertels". Edl, im Hauptberuf Arzt, hat 2013 die "Stadlakademie" mitbegründet und engagiert sich seit den 1980er Jahren im Weinviertler Museumsdorf Niedersulz. Im größten Freilichtmuseum Niederösterreichs haben einige der charakteristischen Scheunen eine würdige Bleibe gefunden. Längsstadeln sind - wie Presshaus und Kellergasse - Markenzeichen der Weinviertler Dorfarchitektur. Bilder ihrer Übertragung zeigen die Konstruktion in solider Zimmermannsarbeit. Der Längsstadel aus Loidesthal, seit 1993 im Museumsdorf, wirkt, als wäre er schon immer dort gestanden. 1999/2000 wurde das seltene Exemplar eines Kreuzstadels aus Groissenbrunn disloziert. Der Herausgeber hat für das vorliegende Buch informative Beiträge über "Die Stadeln und das Hintaus" sowie ein "Stadel-Glossar" verfasst. Hier erfährt man wirklich alles, was man über diese Gebäude wissen will.
Die im Bundesdenkmalamt tätige Kunsthistorikerin Bettina Withalm hat ihre Masterarbeit im Bereich Bauforschung über die Längsstadeln des Museumsdorfs Niedersulz geschrieben. Sie gibt "Einblicke in Handwerk und Konstruktion" und verweist auf die wichtige Rolle der Bauten im dörflichen Wirtschaftsleben: "Sie waren unverzichtbarer Bestandteil für das reibungslose Funktionieren aller Arbeitsabläufe innerhalb der Hofgemeinschaft … die charakteristischen längs ausgerichteten Holzständerbauten, die von je einem Tor an jeder Giebelseite aus erschlossen werden." Die großen Wirtschaftsgebäude erfüllten mehrere Funktionen. Die Tenne zwischen den Toren diente als Durchfahrtsweg und Abstellplatz landwirtschaftlicher Fahrzeuge, wie auch zum händischen Dreschen. Daneben war im Holbbarn Platz für Stroh und nicht gedroschenes Getreide. Zwei niedrigere Abseiten, die an Seitenschiffe von Kirchen erinnern, boten weiteren Stauraum. Waren im offenen Dachstuhl Bretter oder Stangen aufgelegt, konnte man auch hier noch etwas lagern. Zur Dachdeckung dienten im 17. und 18. Jahrhundert Stroh, später Ziegel. Typische Baustoffe waren Sandstein, gebrannte Ziegel, Lehmziegel und Holz. Gemauerte Stadel brauchten Lüftungslöcher. Dekorationen mit Lüftungsziegeln gaben den Erbauern Möglichkeiten zu phantasievoller Gestaltung.
Die Rolle der Stadel "in Landwirtschaft und Brauchtum" beleuchtet der Weinviertler Historiker Wolfgang Galler. Der Stadel war nicht nur Wirtschaftsgebäude, sondern auch "Musikantenstadel". Wenn es galt, den Boden der Tenne zu festigen, um ihn für das Dreschen tauglich zu machen, luden die Bauern die Dorfjugend zum "Festtanzen" ein. Riefen sie dazu früher die "Stadelmusi", so trat in der Zwischenkriegszeit das Grammophon an deren Stelle. Die schwere Arbeit des Dreschens besorgten im Winter gut eingespielte Arbeitsteams mit ihren Flegeln. Beim Drischeldrusch teilten sie die wertvollen Ähren von dem, ebenfalls als Rohstoff geschätzten, Stroh. Eine brauchtümliche Verwendung waren die "Allerheiligenstriezel", die Burschen am Vorabend des Festes quer über die Straße spannten.
Der Bibliothekar Thomas Hofmann hat einen historischen Bericht über das "Tenntreten" ausfindig gemacht. Es war notwendig, um eine ebene Fläche für das Dreschen herzustellen. 1903 beschrieb ein Journalist der "Landzeitung", wie dies vor sich ging. Er betonte, dass dies eine beliebte Abwechslung der jungen Mädchen und Burschen war. Hier lernten sie, unter sich, Tanzen, "weil es in den Dörfern keine Tanzschulen gibt", während sich der Musikanten-Nachwuchs "die ersten Sporen verdient". Außerdem hat der Autor mehrerer Bücher der Edition Winkler-Hermaden wieder historische Zeitungsnotizen zum Thema gefunden: " Zwei Themen dominieren: Brände und Selbstmorde, traurige Belege tragischer Ereignisse … Realität im bäuerlichen Alltag."
Die Kräuterpädagogin Petra Regner-Haindl, eine Winzerstochter aus Wolkersdorf, weiß viel über "das wilde Grün hintaus" zu berichten. Sie stellt ein gutes Dutzend Pflanzen vor, die hier gedeihen. Unerfahrene Städter würden manche verächtlich "Unkraut" nennen. Die Autorin kennt aber die Vorteile von Hühnerdarm - "ideal als Einstiegspflanze für alle, die Wildkräuter in ihre Ernährung einbauen möchten" - Brennnesseln - "Sie sind proteinhaltig und haben einen nussigen Geschmack. Aufs Butterbrot gestreut, sind sie ein Genuss" und anderen Kräutern, Sträuchern und Bäumen.
Michael Staribacher, Projektberater, freiberuflicher Autor und Stadelakademie-Mitbegründer nennt seinen Beitrag "Die vier Jahreszeiten im Hintaus". Er hat Mundartliches zum Thema zusammengetragen, worunter sich auch viel Pflanzliches findet, wie Hollaschtauan (Holundersträucher), Nussbahm (Nussbaum), Eapfö (Erdäpfel), Zwetschbm (Zwetschken), Muakn (Karotten), Pedaschü (Petersil), Gugascheckln (Löwenzahn) oder Veigaln (Veilchen).
Der Anwalt Martin Neid bezeichnet sich selbst als "Weinviertler und Hintausbedürftiger", denn "Einzutauchen ins Hintaus hat mich immer befreit vom krankmachenden Lärm und vom Gewicht des alltäglichen Müssens. … Und weil ich immer irgendetwas müssen muss, hält mein Herz immer Ausschau nach Hintaus. … Die Oasen des Weinviertels heißen Hintaus. Ich möchte mir das Weinviertel gar nicht vorstellen ohne Hintaus. … Wenn wir uns Hintaus nehmen lassen, dann wird die Sehnsucht nach einer unasphaltierten Freiheit nur mehr durch unsere Träume geistern. Und das wäre zu wenig, um uns gesund zu erhalten. "
Glücklicherweise bemüht sich die Stadelakademie, das zu verhindern. Der dritte im Bunde der Gründer ist Johannes Rieder. Er entstammt einer legendären Poysdorfer Winzer- und Heurigenfamilie und setzt Initiativen, um die Wertschätzung der Weinviertler Lebenskultur zu fördern. Inzwischen vermitteln 40 StadelmeisterInnen Wissen über die Stadel. Über deren Zukunft kann Johannes Rieder schon Positives berichten: "Manche sind zu begehrten Dorf- und Veranstaltungszentren umgewidmet und so zu kraftvollen Biotopen des dörflichen Gemeinschaftslebens geworden. … Pfarrstadel stärken landauf, landab das Miteinander. Heurigenstadel laden ein, Kostbarkeiten aus Küche und Kellern zu genießen." In einige sind Vereine, Museen, Künstler und Kulturschaffende eingezogen.
Besondere Erwähnung verdienen die Fotos von Wolfgang Krammer. Als Werbefotograf, Ausstellungsgestalter und Bildband-Autor vermittelt er mit professionellem Blick Informationen und Emotionen. Ob es sich um poetische Baudetails, Einzelobjekte oder Straßenzeilen handelt, die Bilder rücken das baukulturelle Erbe ins rechte Licht. " Die oftmals beeindruckende Architektur der Holzbauten schafft eine zeitlose, wohltuende Atmosphäre", schreibt Johannes Rieder. Krammers Bilder vermitteln sie. Selbst wenn manche Objekte zur "dicht bepickten Plakatwand" geworden sind, in Ehren altern oder in Schönheit sterben, "der Stadel erträgt's mit Würde", wie es in einer Bildunterschrift so treffend heißt.