Wolfram Weimer: Der vergessene Erfinder#
Wolfram Weimer: Der vergessene Erfinder. Wie Philipp Reis das Telefon erfand. Ch. Goetz Verlag München 2019. 144 S., ill., € 20,-
Zu den österreichischen Mythen gehört das österreichische Erfinderschicksal. Tatsächlich gibt es eine Reihe verkannter Genies: Josef Madersperger, der 1814 die erste Nähmaschine vorstellte, den Forstbeamten Josef Ressel, der 1827 die Schiffsschraube erfand oder den Tiroler Zimmermann Peter Mitterhofer, der 1864 die erste Schreibmaschine konstruierte. Ruhm und Gewinn blieben ihnen versagt, andere profitierten von ihren Ideen. Es mag erstaunen, dass ein Deutscher ihr trauriges Schicksal teilt, der Lehrer Philipp Reis aus der Hessischen Stadt Gelnhausen. Er erfand 1861 das, von ihm so genannte, Telefon.
"Der Erfinder des Telefons heißt nicht Graham Bell, er heißt Philipp Reis" , ist der Kernsatz des vorliegenden Buches. Sein Autor, der Historiker Wolfram Weimer, zählt zu den profiliertesten Publizisten des Landes. International tätig, war er unter anderem Chefredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und "Journalist des Jahres 2004", außerdem Gelnhäuser wie Reis und Absolvent der nach diesem benannten Schule. Fulminant entfaltet der Autor die Biographie des Erfinders und den Zeitgeist in der "Barbarossastadt", die er "ein zu Stein gewordenes Idyll alter Kultur" nennt. Friedrich I. baute hier im 12. Jahrhundert eine Kaiserpfalz, im 30-jährigen Krieg schrieb Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen seine literarische Chronik "Simplicissimus". "Sich selbst nicht so ernst und wichtig nehmen, dieser Simplicissimus-Zug begleitet seither Gelnhäuser aller Generationen. Auch Philipp Reis ist davon geprägt. … Seine Lebensspanne umfasst eine völlige Umwälzung des Weltgeschehens, bezeichnet durch Explosionen des Wissens und Handelns, der Bevölkerung und der Technik, des Welthandels und der Industrialisierung. … Reis verfolgt keine politischen Absichten … er ist ein bürgerlicher Revolutionär, ein Bessermacher, kein Besserwisser. Ein Gestalter und kein Ideologe, ein Menschenfreund, kein Klassenfeind. Er hegt keine Feindbilder, er ist ein durch und durch konstruktiver Mensch. "
Philipp Reis wurde 1834 als Sohn einer Bäckerdynastie geboren. Mit neun Jahren Vollwaise, kam er in die Obhut der Großmutter und eines Onkels als Vormund. Sie erkannten seine vielfachen Begabungen und ermöglichten ihm den Besuch guter Schulen. An einer, dem Institut Garnier in Friedrichsdorf, sollte er später selbst Lehrer werden. Die Direktion richtete ihm ein eigenes Physiklaboratorium ein. Dort "bastelte" er an einigen Erfindungen. Aus Schlittschuhen baute er mithilfe kleiner Räder Inlineskater, denen aber die Straßenverhältnisse noch nicht entsprachen. Die Konstruktion eines Wassermessers für die Schule verhinderte Verschwendung und trug ihm den ehrenvollen Spitznamen "Institutsbrunnenmächer" ein. Für seine Familie erfand er einen Wecker, der Schläfer so unsanft weckte, dass sie allein der Gedanke daran rechtzeitig aufstehen ließ. Mit seinem Velociped, einem Dreirad mit Handbetrieb, bewältigte Philipp Reis spielend die 50 km lange Strecke nach Frankfurt. Er forschte sogar über die Nutzung von Solarkraft. Mit seiner epochemachenden Erfindung in der Hand fotografierte er sich auf dem "ersten Selfie Deutschlands". Auch den Selbstauslöser (mit Fußbetrieb) hatte er entwickelt.
Um den Unterricht interessant zu gestalten, fertigte Reis mit einfachen Mitteln anschauliche Modelle an. Der Nachbau einer Ohrmuschel inspirierte ihn zur Erfindung des Telefons, die ihn 1858 bis 1863 beschäftigte. "Eine lächerliche Konstruktion! Aus einer Geige, einer Stricknadel und der Blase eines Hasen bastelt Philipp Reis 1861 das erste Telefon der Welt. Eine Jahrtausenderfindung in einer hessischen Scheune -" Obwohl der Apparat zur Übertragung von Sprache gedacht war, funktionierte dies anfangs nicht so gut wie von Musik. Volkslieder wie "Muss i denn zum Städtele hinaus" oder "O du lieber Augustin" waren die ersten Beispiele öffentlicher Vorführungen. Beim Expertengremium des Physikalischen Vereins Frankfurt erregten sie "Erstaunen und Bewunderung". Andere Zuhörer waren so skeptisch wie Zirkusbesucher bei einem Zaubertrick. Das Publikum wollte miterleben, wie ein Helfer in einem Nebengebäude las und Reis die Sätze nachsprach. Um Schwindelei auszuschließen, sollten sie möglichst spontan und sinnfrei sein, wie "Das Pferd frisst keinen Gurkensalat". Der Erfinder, vom Erfolg bestätigt, ließ nun einige Telefone produzieren, die er als Forschungsgeräte verkaufte. So lernte auch Alexander Graham Bell in den USA den deutschen Telefonapparat kennen. Der schottische Immigrant verbesserte ihn und meldete 1876 (zwei Jahre nach Reis' Tod und 15 Jahre nach dessen Erfindung) als erster das Patent an. "Die amerikanische Historiographie feiert Graham Bell gleichwohl seit Jahrzehnten als den Erfinder des Telefons. Und sie tut es so patriotisch laut und medial durchdringend, dass die Welt das inzwischen glaubt" , stellt Wolfram Weimer fest.
Nachdem der Autor die wahre Geschichte dargelegt und mit vielen interessanten Abbildungen illustriert hat, fügt er als Dokumentation den von Reis verfassten Lebenslauf und dessen Erläuterung der Erfindung bei. Dazu kommen ein wissenschaftlicher Artikel aus dem Jahr 1963 und ein aufschlussreicher Chronikteil.
Kaiser Franz Joseph ist als junger Monarch in Uniform abgebildet, da er 1863 bei einer Telefonpräsentation in Frankfurt anwesend war. Beim Fürstentag wurde das Gerät höchsten politischen Kreisen vorgeführt. "Auf Einladung des österreichischen Kaisers sollten die deutschen Fürsten über eine grundlegende Reform des Deutschen Bundes beraten. … Da aber so viele wichtige Entscheider in Frankfurt sind, kommt es auch zu kulturellen und wissenschaftlichen Darbietungen. Das Reis-Telefon wird als eine Erfindersensation im Goethehaus vorgeführt. Kaiser Franz Joseph von Österreich hört erstaunt die Übermittlung musikalischer Töne. " Bis zur Einführung sollten hierzulande aber noch fast zwei Jahrzehnte vergehen. Zumindest bei der Aufstellung öffentlicher Automaten in Telefonzellen war Wien um die Jahrhundertwende ein Vorreiter in Europa. 2020 gibt es mit mehr als 8 Milliarden Geräten mehr Handy-Telefone als Menschen auf der Welt. Österreich macht da keine Ausnahme. 8,86 Millionen Bewohner nutzen 11 Millionen Mobiltelefone.